© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Von wegen kulturelle Aneignung
Henry Reyna spürt seinen indianischen Wurzeln nach und wirft dabei die Frage nach Herkunft und Identität auf
Peter Backfisch

Ein wunderbares Buch durch die Weiten indianischer Geschichte. Der Autor, Henry Reyna, ist Deutscher, hat in Heidelberg studiert und arbeitet seit über zwanzig Jahren als zugelassener Psychotherapeut. Dennoch muß er sich nicht den derzeit von allzu woken Zeitgenossen gern geäußerten Vorwurf gefallen lassen, er betreibe mit seinem Buch „kulturelle Aneignung“. Denn anders als das Schulkind, das sich zum Fasching mit indianischen Federn schmückt oder der fiktiven Romanfigur Winnetou des Durch-und-durch-Sachsen Karl May, besitzt Reyna tatsächlich indianische Abstammung.

In seinem Buch zeigt er die magische Anziehung, die Herz und Geist berühren und dabei nach allseitigen und seelischen Erkenntnissen und Bewußtseinsbildung streben. Ein ständiger Drang diese zu erweitern und dem Nichtsehenden Teilhabe zu ermöglichen. Reynas Reise beginnt in Mexiko in einem kleinen, staubigen Ort am Rande der Sierra Madre. Er spricht kein Spanisch und weiß wenig über das Land. Einzig spärliche Informationen sagen ihm, daß sein Vater und Großvater einst in dieser Gegend gelebt haben. Dies teilt er den armen Einwohnern der Siedlung mit, die darauf in große Aufregung geraten und ihn immer und überall als Apache bezeichnen. Apachen in Mexiko, wie kann das sein? Es beginnt eine lange intensive Suche.

Er lernt Diego und Elba kennen die ihn mit seinem Onkel, El Gitano, zusammenbringen, ein in seinen Augen heruntergekommener Patriarch, der dabei zusieht wie seine Familie in Armut verkommt. „Im Anwesen herrscht reger Betrieb, die älteren Mädchen lausen die Jüngeren“. Aber nichts ist so wie es scheint. Mehr und mehr übt El Gitano eine große Anziehungskraft auf den Autor aus. Er zeigt ihm die Umgebung, und der Autor merkt, sein Onkel verfügt über Erkenntnis, „worüber die Philosophen Europas 2.000 Jahre diskutiert und nachgedacht haben“. Das Bild wird mehr und mehr klarer, es stellt sich heraus, daß Reyna tatsächlich seine indianischen Wurzeln bei den Apachen zu suchen hat. Dabei erhält er Zugang zu mythischen und spirituellen Lebensweisen der Indianer, zurück bis in die Zeit des legendären Häuptlings Geronimo, der unter den Lebenden noch allgegenwärtig ist.

„Die Deutschen waren auch in gewisser Weise Indianer“

Tief verunsichert fliegt der Autor nach Deutschland zurück. In einem Exkurs zeigt er, daß die Deutschen „in gewisser Weise auch Indianer waren. Sie nannten sich Kelten und Germanen.“ Nach Cäsars gallischem Krieg erlebten die in Westeuropa lebenden Kelten und Germanen einen Wandel, der grundlegend war. Zuerst vergaßen sie ihre spirituellen Traditionen. Aber es kam noch schlimmer. Mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch Kaiser Konstantin, einem Heiden, und dem von ihm zusammengerufenen Konzil von Nizäa „ging es ihm ausschließlich um nackte Machtpolitik“, resümiert Reyna. „Von nun an zog eine Lügengeschichte durch die Welt, die alles vernichtete, was sich der Wahrheit verpflichtet sah.“ Betroffen waren die Menschen in keltischen und germanischen Siedlungsgebieten, deren Heiligtümer in der Natur, der Landschaft, den Tieren und den Steinen und den Beschwörungen ihrer Medizinmänner, dem Untergang geweiht waren. 

Ob derartige gleichsetzende Verknüpfungen zwischen den Welten von Kelten und Germanen mit denen der Indianer angebracht sind und deren beidseitige Zerstörung durch das Christentum verursacht ist, muß allerdings bezweifelt werden.Richtig ist, daß alle indianischen Stämme mit der Einwanderung von europäischen Siedlern großes Leid erfuhren. Überlebten sie eingeschleppte Seuchen oder militärischen Druck, mußten die Indianer Land, Kultur und Lebensweisen aufgeben, dies auch im Namen des missionarischen Christentums. Im geleisteten Widerstand dagegen spielten die Stämme der Apachen sicher eine besondere Rolle, nicht umsonst sprechen die Amerikaner von den „Apachen-Kriegen“, die in den Jahren 1850 bis 1890 einen hohen Blutzoll abverlangten.

Reynas Reisen waren Suche nach Herkunft, Wurzeln und Identität, oft auch schmerzhaft. Sie warfen Fragen auf, nach unserem Schicksal, nach dem Sinn des Lebens und dem nach Einfluß der Ahnen darauf. Er bezieht sich auf den Kalender der Maya, der für 2012 eine Zeitenwende ankündigt. Sind die transhumanistischen Irrungen als deren Anfang zu sehen?

Henry Reyna: Wir denken mit dem Herzen – Mein Weg zu Geronimo. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2022, broschiert, 18,90 Euro