© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Der Flaneur
Lehmanns Schmerzen
Paul Leonhard

Ob das weh tut?“ „Nein“, ertönt eine lamentierende Greisenstimme. Hier tue es weh, nicht dort. Herrn Lehmann geht es schlecht. Der alte Herr hat Beschwerden, ist gehbehindert, und überdies hört er schwer. 

Deswegen kann ich mir, obwohl ich im Warteraum und er jenseits der Wand im Behandlungszimmer sitzt, ein Bild von seinen Leiden machen. Gerade streiten sich der Doktor und er über die Stellen, an denen er Schmerzen hat. Herr Lehmann und der Mediziner sind da offenbar unterschiedlicher Meinung.

Ein paar in der Wartegemeinschaft grinsen leise vor sich hin. Zwei junge Männer lassen weiterhin die Finger über die Tastaturen ihrer Notebooks eilen. Zeit ist Geld und knapp, auch in der Akutsprechstunde am Montag morgen, in der all jene sitzen, die das Wochenende nicht vertragen haben. Ich habe blöderweise nicht einmal ein Buch eingesteckt. 

Zeitschriften liegen seit der Pandemie nicht mehr aus, also analysiere ich die Wartegemeinschaft. Alle tragen Masken, die Mehrheit schlichte medizinische in Hellgrün. Die Blicke sind gesenkt und auf die Bildschirme der Smartphones gesenkt. 

Eine Frau steht auf und öffnet eine Tür mit der Aufschrift „Patienten-WC“. Ich schaue mich um, es gibt tatsächlich nur eine, trotz der zahlreichen Geschlechter.

Der alte Herr humpelt mit rotem Zettel in der Hand gerade Richtung Apotheke.

Die von mir eingeplante Wartezeit von einer Stunde ist längst verstrichen und eine Zeitlang habe ich tatsächlich überlegt, mich wieder abzumelden. Inzwischen habe ich einen ganz guten Überblick über die Patienten. Ich weiß, wer schon dasaß und wer nach mir gekommen ist und rate, wer als nächster dran sein könnte und vor allem wie lange ich hier noch rumsitzen muß.

Die durchschnittliche Behandlungszeit ist bei allen drei Ärzten in etwa gleich und liegt zwischen fünf und acht Minuten, dazu kommen dann drei bis fünf weitere Minuten, in denen der Arzt Rezepte ausstellt, mit diesen zu den Schwestern in der Rezeption flitzt und auf dem Rückweg den nächsten Patienten aufruft. 

Allerdings gibt es offenbar von meinem Stuhl aus auch nicht einsehbare Plätze, von denen der Doktor Herrn Lehmann gezaubert hat. Die beiden scheinen sich inzwischen einig geworden zu sein. 

Denn der alte Herr humpelt gerade mit roten Zetteln in Richtung Apotheke. Behandlungszeit elf Minuten. Jetzt werde ich aufgerufen.