© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

„Geht es so weiter, geht das nicht gut“
Krise: In seinem neuen Buch stellt der ehemalige Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens Sigmund Gottlied Deutschland ein vernichtendes Zeugnis aus
Moritz Schwarz

Herr Gottlieb, „So nicht!“ heißt Ihr Buch. – Wie nicht? 

Sigmund Gottlieb: Ich habe den Titel gewählt, weil wir es uns in Deutschland nicht mehr leisten können, uns mit Durchschnittsleistung zu begnügen. 

Zum Beispiel?

Gottlieb: Obwohl die Begebenheit lang zurückliegt, halte ich sie für ebenso aktuell wie bezeichnend für den Zustand unseres Landes: Bei einem Essen saß ich neben dem Vorstandsvorsitzenden eines Autokonzerns. Plastisch beschrieb er die Probleme im weltweiten Wettbewerb – um dann auf den für ihn entscheidenden Punkt zu kommen: „Es geht um Qualität! Es geht um Zuverlässigkeit! Hier liegen die Japaner weit vor uns. Das wäre früher undenkbar gewesen. ‘Paßt schon’, ‘reicht schon’ – das ist zuwenig! Diese Einstellung müssen wir dringend ändern.“ Ich meine, heute gilt genau das für das ganze Land: ‘Paßt schon’, ‘reicht schon’ – reicht eben nicht! Das zeige ich in meinem Buch, für das ich mit vielen Menschen aus allen Bereichen gesprochen habe, die mir alle bestätigten: Machen wir weiter wie bisher, wird das nicht gutgehen.  

Das Buch beginnt mit einer Szene auf der Terrasse eines idyllischen Alpenhotels an einem Sommernachmittag, wohltuende Wärme, Ruhe – entspanntes Leben. Bis das Wetter umschlägt: Wind kommt auf, es wird kalt, graue Wolkentürme ziehen heran, die Gäste fliehen nach drinnen. Sie aber erkennen nun, wie sich an vielen Stellen Putz löst, Verzierungen verblichen sind, das Glas der Fenster blind ist – und der Leser realisiert ... 

Gottlieb: ... dieses Hotel ist Deutschland.

Warum ein solch kafkaeskes Traumbild?

Gottlieb: Weil es paßt: Wie im Licht der Sonne, so leben wir in Deutschland inzwischen vielfach in einem unbegründeten Wohlgefühl. Denn ändert sich „das Wetter“, kommt die Wahrheit zutage, wird der Blick frei auf die Zerfallserscheinungen eines Landes, das sich über seinen globalen Spitzenplatz selbst belügt. Weil es bequem geworden, zu Einsatz und Leistungswillen nicht mehr bereit ist und sich mit Mittelmaß begnügt – ein Schlendrianland sich durchwurstelnder Schlamperei. Denn wer sich nicht mehr anstrengt, läßt nach. Wer aber nachläßt, wird nachlässig – und eine Schwester der Nachlässigkeit ist die Fahrlässigkeit. 

Wer ist dafür verantwortlich?  

Gottlieb: Ich sehe da eine Reihe von Mentalitäten am Werk. Im Buch spreche ich etwa von der „Republik der Euphemisten“, von der Herrschaft derer, die alles schönreden, sich und der Bevölkerung etwas vormachen. Die aber natürlich dennoch auf einige Bereiche verweisen können, in denen es bei uns noch gut, vielleicht gar spitzenmäßig klappt. Die wir aber auch noch verlieren werden, wenn wir so weitermachen! Dann haben wir die Moralisten, die das Diktat der Diskussion vorziehen und die alle mit anderer Meinung für entweder unmündig oder bösartig halten. Weiter sind da die Tabuisierer, die konsequenteren Geschwister der Euphemisten, sowie die Gesinnungsethiker, die sich nur für die richtige Gesinnung, die reine Lehre interessieren, aber nicht für die Folgen ihres Tuns. 

Vor allem den Gesinnungsethikern attestieren Sie, daß sie fast alle Diskussionen in Deutschland beherrschten.

Gottlieb: Die Gesinnungsethiker haben Deutschland in einem Maße besetzt, daß die Räume für Verantwortungsethiker, auf die es ja ankommt, immer enger werden. Das ist auch der Grund, warum immer weniger Unternehmer bereit sind, an Diskussionssendungen im Fernsehen teilzunehmen.

Warum haben die Gesinnungsethiker und Co. diesen Einfluß?

Gottlieb: Genau das ist die Frage! Denn gegenüber der Masse der normalen Leute sind sie deutlich in der Minderheit. Doch auch durch mediale Vervielfältigung schaffen sie es, wie die Mehrheiten zu erscheinen. So daß sich die wirkliche Mehrheit fürchtet, ihnen zu widersprechen. Und wer es doch wagt, sieht sich schnell absurdesten Vorwürfen ausgesetzt. Inzwischen genügt es oft schon zu sagen, das Glas sei halbleer statt halbvoll – schon steht man im Verdacht, alles schlechtreden zu wollen und wird totgeschwiegen.

Wie ist es möglich, daß öffentlich mehr über andere Dinge diskutiert wird als über diese strategischen Momente für unsere Zukunft? 

Gottlieb: Wenn man nur lange genug statt über reale Probleme über jene der vermeintlich Fortschrittlichen debattiert, entsteht eine Art neue Realität – durch die wiederum jene „gefühlte“ Mehrheit entsteht. Und Menschen möchten nun mal dem, was sie für die Mehrheit halten, angehören – zumindest aber nicht damit in Konflikt geraten. 

Haben wir es also mit einem Versagen des Bürgertums oder bürgerlichen Lagers zu tun? Denn das ist klassischerweise ja Träger der Werte, die Sie untergebuttert sehen: Verantwortungsbewußtsein, Leistungswille, Disziplin, aber auch Freiheit und Staatsbürgertum.

Gottlieb: Ich würde nicht gleich von Versagen sprechen, aber doch von einer gefährlichen Gleichgültigkeit, sich mit unserer Lage einfach zufriedenzugeben. In meinem Buch habe ich das Problem der Gleichgültigkeit anschaulich gemacht, nämlich in bezug auf Minderheiten in Deutschland, die uns egal geworden sind. Ich habe viele Gespräche mit Juden in Deutschland geführt. Viele von ihnen fühlen sich inzwischen wieder massiv bedroht.

Wieso Minderheiten? Ist das nicht schon gegenüber der Mehrheit so? Die sieht mit wachsender Sorge auf die Energie- und Preiskrise, traut sich bei bestimmten Themen nicht mehr, öffentlich ihre Meinung zu sagen, ist gegen die anhaltende Masseneinwanderung, das Gendern, die Abschaffung der Eltern und von Mann und Frau. Doch all das interessiert nicht. Statt dessen debattieren wir über „Postkolonialismus“, „strukturellen Rassismus“ oder Transgender – Probleme, die, falls sie überhaupt real und nicht Neurosen sind, nicht einmal die klassischen Minderheiten betreffen, sondern Mikrominderheiten, so winzig, daß man sie statistisch kaum wahrnehmen kann. 

Gottlieb: Ein Teil unserer Politiker, aber auch viele Mitglieder unserer Gesellschaft verschwenden ihre Energie an Themen, die unwichtig sind. Gegenüber der Bedrohung durch Krieg, Schutz der Minderheiten und der Energiekrise hat die Gender-Diskussion etwas zutiefst Banales.

Sie sprachen vorhin von „der medialen Vervielfältigung“, die dazu beitrage, Minderheiten wie die Mehrheit erscheinen zu lassen. Welche Rolle spielen dabei die öffentlich-rechtlichen Medien, zu denen Sie ja lange gehört haben? 

Gottlieb: Was da am Werke ist, ist der sogenannte Haltungsjournalismus. Der aber ist ein Problem des Journalismus insgesamt – keineswegs nur der Öffentlich-Rechtlichen. Die wiederum bereits erkannt haben, daß es mehr Meinungsvielfalt braucht. 

Wie bitte? Wo denn?

Gottlieb: Diese Vielfalt verwirklicht sich auf verschiedenen Ebenen. Etwa haben wir verschiedene Sender aus verschiedenen Bundesländern mit verschiedener politischer Prägung. Dann gibt es verschiedene politische Magazine, wie „Monitor“, „Panorama“ oder „Fakt“, von denen Sie wirklich nicht behaupten können, dort kämen bürgerliche Sichtweisen nicht zum Ausdruck. Ich meine, wir sollten bei unserer Kritik also schon darauf achten, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, daß die Sender weiter an sich arbeiten. Sie müssen sich, wie jedes Unternehmen oder jede Institution, die es schon lange gibt, immer wieder neu erfinden.

Es ist gar nicht zu bestreiten, daß es eine gewisse Vielfalt gibt – aber in einigen Bereichen eben nicht. 

Gottlieb: Zum Beispiel?

Etwa die Besetzung politischer Talkshows, wo von Januar bis zum Zeitpunkt unserer Auswertung am 7. August die AfD, obwohl mit über zehn Prozent Wählerstimmen zweitstärkste Oppositionspartei im Bundestag, keinen einzigen Vertreter in einer der fünf großen Talkshows – Illner, Will, Lanz, Maischberger, „Hart aber fair“ – hatte. Zum Vergleich: Die mit gut elf Prozent etwa gleich starke FDP genoß einen Talkshowanteil von fast 17 Prozent und sogar die mit 4,9 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiterte Linke einen Anteil von gut sechs Prozent.  

Gottlieb: Das wäre mir wirklich neu. Ich stelle immer wieder fest, daß sich die AfD gern als Opfer der Medien zur Schau stellt. Ich jedenfalls denke mir bei vielen Sendungen: Um Himmels willen, schon wieder Frau Weidel!

Dann ein anderes Argument: Namhafte Persönlichkeiten attestieren den Öffentlich-Rechtlichen die Ausgrenzung gewisser Meinungen, etwa Norbert Bolz, Henryk Broder, Monika Maron, Cora Stephan, Uwe Tellkamp, Thilo Sarrazin, Hans-Georg Maaßen und andere mehr.

Gottlieb: Das bezweifle ich. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß Norbert Bolz und Henryk Broder häufig Gäste in meinen Sendungen waren.  

Das stimmt, doch schließt das eine das andere nicht aus. 

Gottlieb: Da wiederum gebe ich Ihnen recht. 

Unlängst sorgte eine Talkshow eben des Bayerischen Rundfunks für Aufmerksamkeit, bei der auf dem Podium vier der fünf Gäste – sowie die Moderatorin – fürs Gendern waren, während eine Live-Abstimmung unter Schülern im Laufe der Sendung eine massive Mehrheit dagegen ergab. Dieser Fall zeigt doch, wie offenbar völlig desinteressiert die öffentlich-rechtlichen Macher daran sind, die Meinung des Publikums in der Debatte – hier auf dem Podium – angemessen abzubilden. 

Gottlieb: Ich habe, wie die meisten, diese Diskussion nicht gesehen, aber natürlich davon gelesen. Das war sicherlich nicht gelungen. Doch kann man nicht den ganzen Bayerischen Rundfunk nach einer einzelnen Sendung beurteilen.  

Sie halten den Fall nicht für exemplarisch? 

Gottlieb: Nein, bestimmt nicht. Es gibt auch keine Vorgaben des BR, das entscheidet jede Redaktion für sich. Und das ist doch auch gut so!

Natürlich – aber ebenso wie der BR die Redaktionen achtet, müßten diese ihr Publikum achten.

Gottlieb: Selbstverständlich, das ist das hohe Prinzip des Audiatur et altera pars – also immer auch die Gegenseite anzuhören. Dazu hat Martin Walser einen wunderbaren Gedanken formuliert, nämlich daß es ohne die andere Seite keine Wahrheit gibt. Selbst eine Wahrheit ist also noch keine Wahrheit, solange ihr der Blick des anderen fehlt.             

In Ihrem Buch kritisieren Sie einen nach Ihrer eigenen Einschätzung gefährlichen Mißstand. Dieser wird, wie Sie selbst schreiben, von den Medien mit herbeigeführt. Zu den Medien wiederum zählen maßgeblich die Öffentlich-Rechtlichen – wo Sie über Jahre Leitungsfunktionen innehatten. Verstehen Sie, daß man sich da fragt, wie das sein kann?  

Gottlieb: Ich möchte schon bei „maßgeblich“ widersprechen. Es ist, wie Sie richtig wiederholt haben, ein Problem des gesamten Journalismus. Ich wiederhole, daß ARD und ZDF sehr an sich gearbeitet haben, mehr als manch andere Medien.

Womit wir wieder beim Thema der Ausgrenzung aus den Talkshows wären.

Gottlieb: Bitte schauen Sie doch ins Programm, die AfD gehört heute zum politischen Betrieb in Berlin dazu, und so wird das von den Öffentlich-Rechtlichen im Ganzen auch abgebildet. 

Ihr Buch ist ein starkes Plädoyer für einen Wandel. Aber die Frage ist: Wird der Ruf gehört? Welche Zukunft sehen Sie also für unser Land?

Gottlieb: Aufgabe des Journalisten ist es, zu beobachten, zu recherchieren und zu beschreiben – Probleme zu lösen oder Lösungen zu entwickeln gehört dagegen nicht dazu. Das ist Aufgabe der Fachleute und Politiker. Dennoch zeige ich am Ende des Buches drei Elemente einer Lösung auf. Das führt uns zu Ihrer Frage – eine Frage, über die ich immer wieder nachdenke. Denn mein Buch ist eine Kritik am Establishment, und der entscheidende Punkt ist immer, ob und inwieweit jemand, der kritisiert wird, noch bereit ist, die Kritik auch anzunehmen. Das muß ich nun beobachten, denn das Buch ist eben erst erschienen. Erfreulich ist, daß es immerhin medial auf Interesse stößt, was ja quasi eine Empfehlung an die Leser ist, daß sich der Inhalt lohnen könnte. Und so steigen die Chancen, daß seine Analyse und Kritik auch von entscheidenden Leuten gelesen wird. Das ist doch immerhin eine Mut machende Perspektive.   






Sigmund Gottlieb, geboren 1951 in Nürnberg, war von 1995 bis 2017 Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens sowie zeitweilig Vize-Fernsehdirektor, zudem Kommentator der ARD-„Tagesthemen“ und Moderator der Sendungen „Brennpunkt“, „Farbe bekennen“ und „Münchner Runde“. Zuvor moderierte er beim ZDF das heute journal. Er schrieb mehrere Bücher, etwa „Medien auf dem Prüfstand“ (2019), „Stoppt den Judenhass“ (2020) und eben erschienen: „So nicht! Klartext zur Lage der Nation“ 

Foto: Publizist Gottlieb: „Die Zerfallserscheinungen un­seres Landes ... das bequem geworden ist, zu Leistung nicht mehr bereit – ein Schlendrianland sich durchwurstelnder Schlamperei“