© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Wo drei versammelt sind in meinem Namen
Bundestag: Seit über fünf Jahren wird der AfD ein Posten im Präsidium des Parlaments verwehrt / Auch mit einem Trick wird’s wohl nicht klappen
Jörg Kürschner

Seit ihrem erstmaligen Einzug in den Bundestag 2017 verwehrt dort eine Mehrheit der AfD die Wahrnehmung ihrer parlamentarischen Minderheitenrechte. Bis heute. Jetzt hat diese neue Überlegungen angestellt.

Die 79 Mitglieder der AfD-Fraktion müssen angesichts ihrer Paria-Situation im Parlament über ein hohes Frustpotential verfügen. Ihre Kandidaten scheitern regelmäßig, ob nun für das repräsentative Amt des Vizepräsidenten, die geschäftsleitende Position des Ausschußvorsitzenden oder für die sensible Mitgliedschaft im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) der Geheimdienste.

Dabei kann sich die AfD-Fraktion auf die Geschäftsordnung des Bundestags berufen. So heißt es in Paragraph 2: „Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.“ Ähnliche Regelungen finden sich für die Ausschüsse und weitere Gremien des Bundestags. 

Doch mußte die Fraktion im März die schmerzliche Erfahrung machen, daß das Bundesverfassungsgericht ihren Anspruch auf einen Vizepräsidentenposten abgeschmettert hat (JF 3/22). Das Recht einer Fraktion, im Präsidium mit mindestens einem Vizepräsidenten vertreten zu sein, stehe „unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten“, heißt es klar und deutlich im Leitsatz der von der AfD angestrengten Organklage. Tangiert ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Teilhaberecht der Fraktion und der Wahlfreiheit der Abgeordneten. „Nicht nachvollziehbar und unverständlich“, reagierte Fraktionsjustitiar Stephan Brandner empört.

Die Minderheit muß eine realistische Chance haben

Ein jahrelanger Rechtsstreit schien beendet. Bis der gewiefte Jurist das Parlamentspräsidium mit der Überlegung konfrontierte, statt einen mehrere Kandidaten für die Wahl des Vizepräsidenten vorzuschlagen. Ein unkonventioneller Vorschlag außerhalb der ausgetretenen Bahnen, jedenfalls für das Präsidium und den Ältestenrat, der die Plenarsitzungen vorbereitet. Die Finesse hätte darin bestanden, daß der AfD-Kandidat mit den meisten Stimmen automatisch gewählt worden wäre – dank der Unterstützung seiner Fraktionskollegen. Hätte das Präsidium den Trick nicht durchschaut, Brandner hätte wohl eine Flasche Champagner geköpft. 

Ein Blick in das „Handbuch für die Parlamentarische Praxis“, den einzigen Kommentar zur Geschäftsordnung – Fehlanzeige. Also mußte ein Gutachten her, beauftragt vom zuständigen Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Darin räumt der Leiter des Referats „Parlamentsrecht“ ein, daß der Wortlaut der Geschäftsordnung „eine solche Ausdehnung des Vorschlagsrechts“ zuläßt. Immerhin. Doch würden konkurrierende Wahlvorschläge einer Fraktion die „Wahl eines ihrer Bewerber erzwingen“. Das sei mit dem Grundsatz der freien Wahl unvereinbar.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) gab zu bedenken, bei einer Benennung mehrerer AfD-Kandidaten könne jemand zum Vizepräsidenten gewählt werden, der nicht das volle Vertrauen der Fraktion genießt. Könnte die AfD dies glaubhaft und seriös versichern, da immer wieder Abgeordnete die Fraktion verlassen? „Selbstverständlich und uneingeschränkt. In der laufenden 20. Wahlperiode gab es bislang die drei Austritte der Abgeordneten Witt, Huber und Farle, und keiner von diesen dreien war je Bundestagsvizepräsidentenkandidat der Fraktion“, betonte Brandner gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. 

Gegenüber dem Präsidium verweist er auf eine Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen der Nichtwahl von drei Ausschußvorsitzenden. Rückblick. Im Dezember vergangenen Jahres hatte die Mehrheit drei der AfD nach dem geltenden Berechnungsverfahren zustehende Kandidaten abgeblockt. Es wurde mit dem jahrzehntelangen Brauch gebrochen, die Vorsitzenden überwiegend durch die Fraktionen zu benennen. Doch plötzlich verlangten die etablierten Parteien eine geheime Wahl, um die nominierten AfD-Vertreter für den Innen-, den Gesundheits- und den Entwicklungshilfeausschußvorsitz durchfallen zu lassen. Hier lassen die Richter deutliche Zweifel gegenüber diesem Wahlmanöver erkennen. Der Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung könnte beeinträchtigt sein, heißt es in der Entscheidung. Eine Entwertung von Fraktionsrechten durch permanente Ablehnung? „Es gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen, der sich auf die Mitwirkungsbefugnis der Abgeordneten in den Ausschüssen des Bundestages erstreckt“, warnt das Gericht. Auch der Grundsatz der effektiven Opposition wird angeführt, dem zufolge die Minderheit eine realistische Chance haben müsse, zur Mehrheit zu werden. Mit Spannung erwartet die AfD-Fraktion die überfällige Entscheidung des Gerichts im Hauptsacheverfahren.

Zunächst aber bleibt es bei der für die AfD nachteiligen Situation im Bundestag. Die Idee, mehrere Kandidaten als Vizepräsidenten ins Rennen zu schicken, hat sie nach reiflicher Überlegung verworfen. Die Mehrheit hätte darin wohl eine grundlegende Änderung des Wahlverfahrens gesehen, ein entsprechender AfD-Antrag wäre gar nicht erst auf die Tagesordnung gekommen. 

Die Fraktionsführung will auch weiterhin Kandidaten vorschlagen, so wie diese Woche den Haushaltspolitiker Peter Boehringer. Alle drei Wochen soll auch die Öffentlichkeit daran erinnert werden, daß das Präsidium des Parlaments unvollständig ist. Seit nunmehr über fünf Jahren.