© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Alle kann Kairo nicht halten
Ägypten: Fast unbemerkt berherbergt das Land am Nil neun Millionen Migranten
Marc Zoellner

Die Gesichter auf den Fotos sind jung, fröhlich und voller Hoffnung: Mehr als ein halbes Dutzend Bilder ägyptischer Jugendlicher hatte das Samstagsblatt Akhbar el-Yom, zu deutsch „Nachricht des Tages“, Ende August dieses Jahres auf seiner Titelseite abgedruckt, um auf die prekäre Lage ägyptischer Migranten im Mittelmeer aufmerksam zu machen. Für die Wochenzeitung kam diese Publikation einem Wandel auf dem schmalen Grat zwischen Legalität und drohendem Verbot gleich. 

Selbst unterschwelligste Kritik an der Staatsführung wird in Ägypten seit dem Militärputsch vom Juli 2013, der den bis heute regierenden Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi an die Macht brachte, rigide verfolgt. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Anzahl politischer Gefangener im Land auf über 65.000. Mehr als 600 Internetseiten, die sich mit dem politischen und menschenrechtlichen Tagesgeschehen in Ägypten beschäftigen, wurden von den Behörden bislang blockiert. Auf der „Rangliste der Pressefreiheit“, herausgegeben von Reporter ohne Grenzen, ist der nordafrikanische Staat in diesem Jahr auf den 168. von 180 Plätzen abgerutscht, wo er nun zwischen Saudi-Arabien, Syrien und Kuba rangiert.

Die Integration der Zuwanderer stößt an ihre Grenzen

Doch die zugespitzte Flüchtlingssituation schien es den Herausgebern von Akhbar el-Yom schließlich wert, sich mit der Staatsführung Ärger einzuhandeln. Immerhin waren die auf den Fotos abgebildeten Jugendlichen zu diesem Zeitpunkt bereits mutmaßlich verstorben: Ihr Boot war vor der libyschen Küste im Mittelmeer gekentert. Zwei Leichen konnten später geborgen werden, mindestens 19 weitere junge Männer werden noch immer vermißt. 

Nahtlos reihte sich das halbe Dutzend Jugendlicher in die tragische Geschichte von bislang über 19.700 Migranten ein, die seit 2014 auf der Flucht über das Mittelmeer nach Europa in den Fluten ihren Tod fanden. Nachdem die Zahl der Flüchtlinge während der Corona-Krise zwischenzeitlich abflachte, warnen Flüchtlingsorganisationen wie die von der UN gegründete Internationale Organisation für Migration (IOM) eindringlich vor einem erneut rasanten Anstieg der Opferzahlen.

Auf Ägypten liegt hierbei das Hauptaugenmerk internationaler Beobachter: In ihren Berichten bestätigten diesen Sommer sowohl die IOM als auch die Europäische Asylagentur (EUAA) eine Vielzahl an Neuzugängen von Flüchtlingen und Asylsuchenden wie auch von Wirtschaftsmigranten in  dem auf der transafrikanischen Migrationsroute strategisch gelegenen Nilstaat. 

Noch im Dezember vergangenen Jahres wurden in Ägypten rund sechs Millionen Migranten erfaßt. Diesen Sommer zählte die IOM im Land bereits mehr als neun Millionen, ein Zuwachs von 50 Prozent binnen sechs Monaten. Allein vier Millionen Migranten stammten dabei aus dem Sudan, weitere anderthalb Millionen waren vor dem syrischen Bürgerkrieg nach Ägypten geflüchtet, je eine Million kam aus dem benachbarten Libyen und aus dem Jemen.

„Ägypten ist sehr daran interessiert, seine Türen für Migranten und Flüchtlinge offen zu halten“, hatte das ägyptische Außenamt bereits im vergangenen Winter versprochen. Denn für den ägyptischen Staat stellen die Flüchtlinge nicht nur billige Arbeitskräfte dar, sondern ebenso Gewicht in internationalen Verhandlungsrunden zur Entwicklungshilfe. Daß Europa nicht an weiteren Flüchtlingswellen interessiert ist, ist der Kairoer Regierung wohl bewußt.

 Allein diesen Juni ließ sie die Europäische Union den ägyptischen Küstenschutz für stolze 80 Millionen Euro modernisieren – vorgeschobenermaßen zur Rückführung von Bootsflüchtlingen in ägyptische Häfen. Die hingegen kaum mehr existieren: Seit der Schiffskatastrophe vom September 2016 allerdings, bei der vor der Küste der Stadt Rosette mehr als 200 Menschen den Tod fanden, ist Ägypten für Migranten prioritär über den Landweg interessant. Über den Sinai nach Israel und in die Türkei sowie über die Sahara-Grenze in Richtung libyscher Küstenstädte.

Über diese Route treibt es auch die meisten der ägyptischen Flüchtlinge nach Europa. Den jüngsten Berichten der EUAA zufolge hatten im ersten Halbjahr 2022 rund 4.000 Ägypter mit dem Boot von Libyen nach Italien übergesetzt, hingegen im ersten Quartal desselben Jahres nur 169 Ägypter ihren Weg über das östliche Mittelmeer gesucht. Nach Migranten aus Bangladesch machten Ägypter auf der Strecke über Libyen mit 18 Prozent Anteil bereits die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe aus. Asylgesuche von  Ägyptern in Europa stiegen laut EUAA „sogar um 338 Prozent an, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum“. Jeder vierte Antrag würde von den EU-Mitgliedstaaten, allen voran Italien, mittlerweile positiv beschieden.

Für ihre gescheiterte Überfahrt hatten die von Akhbar el-Yom porträtierten jungen Männer ihren Verwandten zufolge je 3.500 US-Dollar an organisierte Menschenschmuggler bezahlt. Erst im April dieses Jahres unterzeichnete Ägyptens Präsident as-Sisi ein neues Gesetz, das für grenzüberschreitenden Menschenschmuggel langjährige Haftstrafen verbunden mit Zwangsarbeit vorsieht. Behördlich verfolgt wurde diese Art der Kriminalität bislang allerdings selten: Denn daß nicht jeder ägyptische Migrant sein Heil in der Flucht nach Europa sucht, davon zeugen gut 2,9 Millionen Ägypter, die teilweise seit Jahren und oftmals am Rande der Legalität in anderen arabischen Staaten arbeiten. Die Summe ihrer volkswirtschaftlich enorm wichtigen Überweisungen in die Heimat betrug im vergangenen Jahr mehr als 32 Milliarden US-Dollar – das entspricht etwa einem Drittel des gesamten ägyptischen Staatshaushaltes.

Wirtschaftskrise verschlechtert die Situation der Migranten 

In den vergangenen Jahren hielt sich die Arbeitslosigkeit am Nil, verglichen mit seinen Nachbarstaaten, gerade durch die intensiven Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der ägyptischen Armee, der ein Großteil der dortigen Schlüsselindustrie gehört, im stabilen einstelligen Bereich. Doch der Ukraine-Krieg hinterläßt in dem importabhängigen Land seit diesem Frühling ein klaffendes Haushaltsloch. „Die schlimmste Krise des Jahrhunderts“, so Ministerpräsident Mustafa Madbuli, brachte mit dem rapiden Wertverlust des ägyptischen Pfund im August nicht nur Staatsbankchef Tarek Amer zu Fall. Ägyptens Militär plant überdies die Privatisierung von gleich zehn seiner wichtigsten Unternehmen zur Sanierung der klammen Staatskasse.

Die jüngste Wirtschaftskrise bringt neuen Sprengstoff für Ägyptens multikulturelle Gesellschaft. „Wir unterscheiden nicht zwischen Ägyptern und Nicht-Ägyptern, die wir auch nicht als Flüchtlinge bezeichnen“, erklärte as-Sisi noch im Januar. „Sie sind unsere Gäste und unsere Jugend.“ Immer öfter dokumentieren jedoch Menschenrechtler teils gewaltsame Übergriffe arabischer Ägypter auf sudanesische Einwanderer. Die zunehmenden den Repressalien gegen dunkelhäutige Gastarbeiter, befürchten lokale Flüchtlingshelfer, könnten Anlaß für eine Weiterreise vieler schwarzafrikanischer Migranten durch Ägypten und Libyen nach Europa sein. Die schwindende Wirtschaftskraft des Landes kann überdies weitere Auswanderungswellen der autochthonen ägyptischen Jugend auslösen.