© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Eine Regierung auf Abruf
Großbritannien: Premierministerin Liz Truss und ihre konservative Partei stehen weiter in schweren Turbulenzen
Jörg Sobolewski

Die vor wenigen Monaten ins Amt gewählte Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Liz Truss, sieht sich im Parlament weiterhin heftiger Kritik ausgesetzt. Als „Regierung auf Abruf“ bezeichnete die BBC die Vorgänge rund um Truss und ihr Kabinett. Nachdem ihr Schatzmeister, Kwasi Kwarteng, in einer kontroversen Regierungserklärung einen besonders schmalen Haushaltsplan und weitreichende Steuersenkungen auch für Vermögende ankündigte, steht die studierte Volkswirtin stark unter Druck. Den für die Regierungserklärung verantwortlichen Kwarteng entließ Truss zwar wenige Tage nach dem Vorgang, doch seitdem scheint die Mittvierzigerin nicht zur Ruhe zu kommen. Denn das Beben, das der geschaßte Schatzmeister mit seinem „mini budget“ angerichtet hatte, wirkt bis heute nach. Das britische Pfund fiel sowohl gegenüber dem Dollar als auch gegenüber dem angeschlagenen Euro auf neue Tiefsstände, der Finanzmarkt reagierte ebenfalls überraschend heftig und die Zentralbank des Landes kaufte Staatsanleihen im Wert von 19,3 Milliarden Pfund auf um, „eine kritische Lage für die britische Wirtschaft“ abzuwenden. Rentenfonds hatten vorher mit Panikverkäufen auf die hohen Zinsen auf Staatsanleihen reagiert. 

Kwartengs Nachfolger, Jeremy Hunt, kündigte an, man werde „fast alle vorgesehenen Steuersenkungen streichen“. Eine Kehrtwende um fast hundertachtzig Grad, die nicht nur bei Journalisten für verwunderte Blicke sorgte. Neben einigen kleineren Steuersenkungen bleibt auch die Abschaffung der Bonusobergrenze für Banker bestehen. Dabei hatte gerade dieses Vorhaben bei vielen Engländern für Ärger gesorgt. 

Doch nicht nur außerhalb ihrer Partei hat Truss sich Feinde gemacht, auch bei den Konservativen sind viele aufgebracht. Denn aus der Steuersenkungskandidatin Truss, die den Fiskus auf ein Rekordniveau stutzen wollte, ist nun die Zauderin geworden, unter der die Steuern so hoch bleiben wie unter ihrem Vorgänger – für den klassischen angelsächsischen Konservatismus ein Unding. 

Oppositionelle Labour-Partei überraschend sprachlos 

Von einem klar merkbaren „Geruch nach Panik“ schreiben britische Medien und zitieren dabei ungenannte Abgeordnete, die eine klare Prognose aufstellen: Sollten Umfragen ergeben, daß „unter einem anderen Premierminister die Konservativen weniger Mandate verlieren würden als unter ihr“ dann sei Truss „fällig“. Andere verweisen auf das enorme Maß an Zutrauen, das Truss seit der Entlassung von Kwarteng unter ihren Ministern verloren habe. Man könne nicht „einen engen Verbündeten dafür feuern, die eigenen Befehle ausgeführt zu haben, und das dann als Pragmatismus bezeichnen“. 

Tröstlich für die konservative Parlamentsmehrheit: Die Opposition scheint bisher noch keine richtige Antwort gefunden zu haben, wie sie mit der panischen Regierungschefin umgehen soll. Wohl versuchte Labour-Chef Keir Starmer die wankende Premierministerin zu einer Fragestunde ins Unterhaus zu zitieren, aber Truss ließ sich entschuldigen. Statt dessen bemüht sie sich um ihre Hinterbänkler und versuchte an einem Abendempfang für ihre Fraktion die Sorge zu zerstreuen, nicht mehr Herrin der Lage zu sein. Manche munkeln bereits, der ebenfalls frisch gekrönte König Charles III. habe eine prophetische Gabe gezeigt, als er bei einem öffentlichen Aufeinandertreffen der beiden seine Premierministerin mit „Oh dear, oh dear!“ begrüßt hatte – eine Reaktion die sich auch mit „Oje, oje“ übersetzen läßt.