© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Alles ist möglich
Im Gespräch: Der Rußlandexperte Thomas Fasbender warnt im Gespräch davor, Moskau zu sehr in die Ecke zu drängen
Curd-Torsten Weick

Herr Fasbender, 240 Tage Krieg in der Ukraine. Gibt es keine Mittel, die Eskalation einzudämmen?

Thomas Fasbender: Aus deutscher Sicht ist die größte Gefahr ein Eintritt der Nato in den Krieg. Die Mehrheit der Deutschen ist jedoch gegen eine Kriegsbeteiligung. Gleichzeitig fordern Teile der Medien und der Politik ein entschieden größeres proukrainisches Engagement und mehr Waffenlieferungen. Frühere Konflikte zeigen, wie rasch solche Eskalationsspiralen unkontrollierbar werden. Ein weiteres Eskalationspotential liegt im russischen Einsatz einer Nuklearwaffe. Noch gibt es dafür keine Anzeichen. Sollte Rußland aber wirklich in die Ecke gedrängt sein, ist auch das nicht auszuschließen. Etwa bei einer ukrainischen Invasion der Krim, wenn Rußland konventionell nicht mehr gegenhalten kann. Die Möglichkeit solcher Eskalationen kann man nur mit sehr besonnener Politik eindämmen. 

Welche Exit-Strategien gibt es überhaupt?

Fasbender: Verhandlungslösungen setzen voraus, daß die Erwartungshaltungen beider Konfliktparteien einigermaßen deckungsgleich sind. Derzeit kann Rußland froh sein, wenn es die Front hält, während die Ukraine schon die Rückeroberung der Krim ins Auge faßt. Der Krieg wird also weitergehen. Es ist auch kein Ende abzusehen, solange die Ukraine und der Westen auf der Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen von 2013 bestehen. Das bedeutet die russische Räumung der Krim. Ich habe große Zweifel, daß ein russischer Präsident, der sich auf einen solchen Frieden einläßt, egal ob Putin oder ein anderer, im Amt überleben wird. Da sind alle möglichen Szenarien bis hin zum Bürgerkrieg drin.

Rußland und Weißrußland proben mit einer gemeinsamen Militäreinheit den Schulterschluß. Was heißt das?

Fasbender: Zum einen bindet ein möglicher weißrussischer Kriegseintritt ukrainische Kräfte an der Nordgrenze. Ich glaube aber, daß Putin auf einen engeren Zusammenschluß der beiden Staaten hinarbeitet. Wenn er die Ukraine endgültig an den Westen verliert, ob mit oder ohne Krim und Donbass, muß er daran interessiert sein, wenigstens Belarus im russischen Orbit zu halten.

Der Westen unterstützt die Ukraine mit militärischer, humanitärer und finanzieller  Milliardenhilfe. Hinzu kommen die Sanktionen. Wie steht Rußland 240 Tage nach Kriegsbeginn da?

Fasbender : Die russische Armee hat entschieden schwächere Leistungen gezeigt als erwartet. Das gilt auch unabhängig von den westlichen Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine. Rußland bleibt derzeit nichts übrig, als auf „General Winter“ zu setzen. Es zerstört die ukrainische Stromwirtschaft und führt eine massive Energiekrise in Europa herbei. Kurzfristig ist das russische Ziel, die Front bis zum Wintereinbruch zu halten. Um so mehr wird die Ukraine versuchen, bis dahin weiteres Territorium zu befreien. Noch ist es jedenfalls zu früh, Rußland abzuschreiben. Auch die Stimmung im Land deutet trotz aller Sanktionen nicht auf einen Umschwung hin. Dieser Krieg kann noch viele Wendungen nehmen.






Dr. Thomas Fasbender lebt als Publizist in Berlin. 2022 veröffentlichte er das Buch „Wladimir Putin. Eine politische Biographie“.