© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Gesprächskultur, bitte!
Streiten will gelernt sein. Aber kann Deutschland noch redlich argumentieren?
Dietmar Mehrens

Ich weiß ja nicht, wo Sie in Ihrem Leben falsch abgebogen sind“, knurrte Agnes Strack-Zimmermann (FDP) im September bei Maischberger ihre Kontrahentin Alice Weidel (AfD) an. CDU-Generalsekretär Mario Czaja wehrte in der Berliner Runde nach der Landtagswahl in Niedersachsen den Hinweis seines AfD-Kollegen Bernd Baumann auf energiepolitische Fehler der Merkel-Administration mit dem Argument ab, er „hetze“ ja immer nur. Und die Menschenrechtsaktivistin Marijana Grandits warf Thilo Sarrazin am 7. Oktober in „Talk im Hangar-7“, als er fachkundig auf die miserable Entwicklung afrikanischer Staaten nach dem Ende der kolonialen Fremdherrschaft hinwies, Rassismus vor. 

Wenn deutsche Politiker sich über Haß im Netz beklagen, über eine entglittene Streitkultur, in der Beleidigungen sich ausbreiten wie Krebszellen, dann gehört dazu eine gehörige Portion Doppelmoral. Wer sich selbst im Ton vergreift, kann seine Hände nicht in Unschuld waschen, wenn das Pöbel-Prekariat, auf das Salon-Sozialisten vom Olymp ihres Arriviertseins gern paternalistisch herabschauen, sich an solchen Vorbildern orientiert. Die linke Vokabel Haßrede, die ja ohnedies den Verdacht nie abstreifen konnte, als Totschlagargument von Gesinnungsgroßinquisitoren gegen diejenigen herhalten zu müssen, die man für Ketzer hält, gehört auch unter diesem Aspekt noch mal auf den Prüfstand.

Dabei ist eine solide, redliche Debattenkultur tatsächlich wesentlich für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander. Strack-Zimmermann & Co. benötigen also ein paar Nachhilfestunden in Sachen redliches Diskutieren. Alle Politiker sollten sich schleunigst an den Gedanken gewöhnen, daß nicht das Rechtbehalten Ziel einer Debatte sein sollte, sondern das Vordringen zum Ziel aller Erkenntnissuche: der Wahrheit. Daß auch ein dummer Mensch oder einer, den ich für dumm halte, mit einer Position recht haben könnte, die ich nicht teile, gehört zu den ältesten philosophischen Einsichten. Sie ist der schlichten Erkenntnis geschuldet, daß alle Menschen irren können, kluge wie dumme. Daß der Kluge viel öfter richtig liegt, ändert hieran nichts, sondern verleitet eher zu kontraproduktiver Arroganz.

Wenn Agnes Strack-Zimmermann Alice Weidel ankläfft, sie wisse ja nicht, wo diese im Leben „falsch abgebogen“ sei, ist das ein besonders eklatanter Verstoß gegen die Regeln redlichen Argumentierens. Sie benutzte ein „Ad hominem“-Argument. Dabei wendet der Sprecher sich von der Sache weg und der Person seines Gesprächspartners zu, um ihm durch das Mittel der Diffamierung die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Dieser Winkelzug gilt unter Rhetorik-Aristokraten als schäbig und fällt in der Regel auf den zurück, der sich seiner bedient: In der Sache kann man den Gegner nicht stellen, also setzt man ihn auf sachfremdem Spielfeld schachmatt. Wird damit ein Angriff pariert, bei dem man selbst Zielscheibe der Kritik war, spricht man von der Tu-quoque-Strategie. Man könnte das mit Blick auf Kinderstreitereien, wo das Tu-quoque-Argument eigentlich hingehört, übersetzen mit: „Aber du, nä?“

In der Diskussion um Gründe und Motive für den Angriff Rußlands auf die Ukraine tauchen seit Februar vermehrt „Putin-Versteher“ (noch ein Ad-hominem-Argument) auf. Sie bevorzugen ein diskursives Ablenkungsmanöver, das die Amerikaner „red herring“ („roter Hering“) nennen. Ein besonders vortreffliches Beispiel lieferte vor ein paar Wochen der ehemalige RTL-Chef Helmut Thoma in der Servus-TV-Talkshow „Links. Rechts. Mitte“. Fast jedes Argument, das gegen Rußland aufgefahren wurde, konterte er mit einem Angriff auf die Amerikaner, mit Verweisen auf den Kosovo- und den Irakkrieg. Ein beliebter Kniff, frei von argumentativer Redlichkeit. Denn vom eigentlichen Diskussionsgegenstand (Rußland) wird abgelenkt und ein neues Faß (Amerika) aufgemacht. Warum wohl? „Rot“ ist der „Hering“, weil das neue Thema markant und seine Bedeutung (in einem anderen Kontext) unübersehbar ist. 

Das Lieblingsargument von Ungarn-Kritikern sind die sogenannten „europäischen Werte“. Es ist der scheinheilige Versuch, die eigene Position an eine höhere Instanz oder Autorität zu knüpfen. Wenn es über die richtige Interpretation dieser Werte jedoch Streit gibt (und nichts anderes ist ja eine Diskussion), dann kann man sie wohl kaum als Argument bemühen. Wenn über Werte, ihren Rang und die richtige Abwägung in Situationen, wo sie miteinander in Konflikt geraten (zum Beispiel individuelle Freiheit versus kollektive Sicherheit), nicht mehr diskutiert werden kann, befindet man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in einer Demokratie mit vitaler Zivilgesellschaft. 

Sachverwandt hiermit ist das No-true-Scotsman-Argument. Es erhebt zum Dogma, was eigentlich Gegenstand der Argumentation sein sollte. Um beim Dissens zwischen der EU und Ungarn zu bleiben, spricht man per terminologischer Adaption besser vom No-true-European-Argument. Wenn also Kommissionschefin Ursula von der Leyen behauptet: „Echte Europäer benehmen sich nicht wie Viktor Orbán!“, ist das der Versuch, weitere Debatten zu unterbinden, weil ja bereits das Dogma regelt, wie ein wahrer Europäer zu argumentieren hat. Die ergebnisoffene Wahrheitssuche ist damit blockiert.

In den Diskussionen rund um das Thema Covid-19 erfreuten sich der Non-sequitur-Fehlschluß und das Pseudo-Argument der Anekdote großer Popularität. Non sequitur („Es folgt nicht“) ist die Verwechslung von Korrelation und Kausalität. Wenn in einem Pflegeheim 2021 mehr Insassen gestorben sind als im Jahr 2019, ist das noch kein Beweis für die Letalität von SARS-CoV-2.

Bei der Anekdote tritt ein einzelnes Fallbeispiel an die Stelle von Daten und Fakten. Unausgesprochen vertritt derjenige, der dieses Beispiel anführt, damit den Anspruch, der ihm bekannte Fall könne eine komplexe empirische Datensammlung widerlegen. Wer also jemanden persönlich kennt, der nach einer Covid-Impfung an einer Herzmuskelentzündung gestorben ist, kann damit natürlich nicht beweisen, daß Covid-Vakzine generell tödlich sind.

Die Suche nach der Wahrheit und nichts als der Wahrheit ist also ein mühsames Unterfangen voller Fallstricke. Das sollten sich Politiker und Medienschaffende in Zeiten der von ihnen so oft beklagten Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft stärker ins Bewußtsein rufen. Es könnte ihnen dann klar werden, daß sie viel weniger Therapeut und viel mehr Überträger der von ihnen diagnostizierten Krankheit sind, als sie sich eingebildet haben.