© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

„Tun Sie einfach alles, was richtig ist“
Literatur: Der Roman „Eine Frage der Chemie“ von US-Autorin Bonnie Garmus darf schon jetzt als der Jahresbestseller gelten
Regina Bärthel

Elizabeth Zott ist eine Ausnahmefigur: intelligent und schön, mit dreißig Jahren eine brillante Chemikerin und alleinerziehende Mutter. Das wäre heute nicht weiter auffällig, doch man schreibt das Jahr 1961, also „damals, als Frauen Hemdblusenkleider trugen und Gartenvereinen beitraten und zahllose Kinder bedenkenlos in Autos ohne Sicherheitsgurte herumkutschierten, damals, bevor überhaupt jemand ahnte, daß es eine 68er-Bewegung geben würde, und erst recht nicht eine, von der ihre Teilnehmer die folgenden sechzig Jahre erzählen würden“.

Es ist eine Zeit, in der Frauen durchaus studieren (die Emanzipationsbewegung ist immerhin schon an die hundert Jahre alt), doch oft nur aus dem Grund, eine bessere Partie zu machen: Eine Frau erhöhte so ihren Wert auf dem Heiratsmarkt, was damals den gesellschaftlichen Gepflogenheiten entsprach.

In „Eine Frage der Chemie“ beschreibt die US-amerikanische Autorin Bonnie Garmus die Lebensgeschichte einer Frau, die sich entgegen aller Widerstände ihrem Ziel widmet, als Chemikerin forschen zu können. Gesellschaftliche Gepflogenheiten sind dabei nicht Sache von Elizabeth Zott, die – wie man heute sagen würde – aus dysfunktionalen Familienverhältnissen stammt. Ihr Bestreben, als Wissenschaftlerin zu arbeiten, bezieht seine Energie nicht aus einer revolutionären Haltung, sondern aus ihrem Forscherdrang. Ihr Verhalten ist störrisch und bisweilen von verletzender Direktheit; Freundlichkeit verbietet sie sich ganz und gar. Alles Umstände, die ihren ohnehin steinigen Weg nicht leichter machen.

Als Laborassistentin arbeitet sie weit unterhalb ihres Könnens, das Kollegen und Vorgesetzte zwar nutzen, jedoch nicht fördern. Einzig Calvin Evans, aufgehender Stern am Himmel der Chemie, akzeptiert ihre wissenschaftliche Kompetenz vorbehaltlos. Als Waise ist Calvin ebenso weit von sozialen Verhaltensnormen entfernt wie Elizabeth; die Aufklärung seiner geheimnisvollen Familiengeschichte bildet den zweiten Hauptstrang des Romans. Sie werden ein Liebespaar, doch obwohl sie sich als Seelenverwandte begreifen, verweigert Elizabeth eine Heirat. Sie will persönlich und beruflich unabhängig bleiben – um jeden Preis.

Die Wissenschaftlerin unterläuft alle ihr angetragenen Klischees

Was nun folgt, ist dramatisch und realistisch zugleich: Calvin verunglückt tödlich, Elizabeth

entdeckt ihre ungewollte Schwangerschaft und wird vom Institut entlassen. Der Affront, den ihre herausragenden Forschungsergebnisse bei Kollegen und Vorgesetzten hervorriefen, wird nun mit moralischer Untragbarkeit begründet.

Trotz des doppelten, ja dreifachen Schocks baut Elizabeth ihre Küche zum Labor um und hält sich und ihre Tochter mit heimlichen Aufträgen ihrer weniger talentierten Kollegen über Wasser. Bis sie dank ihres unverblümten Eintretens für Tochter und Gerechtigkeit für eine tägliche Kochshow des örtlichen Fernsehsenders engagiert wird: „Essen um sechs“.

Selbstredend unterläuft die eigensinnige Wissenschaftlerin alle ihr angetragenen Klischees einer mit Sexappeal aufgeladenen Hausfrau und spricht ihr Publikum – mit großem Erfolg – auf intellektueller Ebene an. Kochen sei reine Chemie, verkündet Elizabeth Zott, und damit eine Wissenschaft, die Wertschätzung, Respekt und Selbstvertrauen verlange: „Haben Sie keine Angst vor Experimenten! Furchtlosigkeit in der Küche wird zu Furchtlosigkeit im Leben.“

Bonnie Garmus, 1957 in Kalifornien geboren, studierte englische Literatur und arbeitete nach ihrem Abschluß als freiberufliche Texterin im medizinischen und technischen Bereich, während sie mit ihrem Mann zunächst nach Zürich, dann nach London zog. Mit „Lessons in Chemistry“, so der Originaltitel des Romans, gelang ihr ein amüsantes und zugleich intelligentes Debüt, das zu Recht die Bestsellerlisten erobert.

Auch die Kritik zeigte sich nahezu einhellig angetan: „Jetzt wird es Zeit für ein enthusiastisches Lob: Dieser Debütroman vereinigt Tiefgang mit Witz! Ein großer, kluger literarischer Spaß – und ein anrührender Familienroman“, kommentierte der Literaturscharfrichter Denis Scheck. In der Süddeutschen Zeitung hieß es: „Die Spannungskurven sind so präzise geschwungen, wie es noch kein Algorithmus kann.“ Ein „Granatenroman“ pflichtete Spiegel-Kritikerin Elke Heidenreich bei.

Mißgunst zahlreicher Geschlechtsgenossinnen

Im Sinne des magischen Realismus ist Garmus’ Gesellschaftsbild der fünfziger und sechziger Jahre nicht nur von zwei genialischen Wissenschaftlern, einer hochtalentierten Tochter und einem der Biologie verfallenen Pfarrer bevölkert, sondern auch von ängstlichen, letztlich aber doch zu sich selbst vordringenden Nebenfiguren, einem psychologisch versierten Hund und einer am Ende doch sehr realen guten Fee. Besonders lesenswert ist der humorvolle und gänzlich unideologische Roman, da die Widerstände, mit denen Elizabeth Zott zu kämpfen hat, sich nicht allein in einer bornierten, durchaus auch brutalen Männerwelt erschöpfen, sondern ebenso die Mißgunst zahlreicher Geschlechtsgenossinnen wie auch deren Hang, gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, aufgezeigt werden. 

Pointenreich erzählt Garmus vom Leben einer Frau, die ebendiesen Normen nicht folgt. Gezeigt wird auch, daß ein solches Leben abseits des Konsenses Risiken birgt, die zu meistern Stärke und Durchhaltevermögen erfordert. Mit Mut zum Experiment Chancen zu ergreifen, wenn sie sich bieten, und sie im eigenen Sinn weiterzuentwickeln ist eine weitere Zutat zu diesem Lebensrezept. Oder, um mit Elizabeth Zott zu sprechen: „Materie kann weder erschaffen noch zerstört werden, aber sie kann umorganisiert werden.“

Mit ihrer Figur der Elizabeth Zott hat Bonnie Garmus keine Jeanne d’Arc des Feminismus erschaffen, sondern eine Frau, die abseits von normativen Ideologien handelt – nach eigenem Wissen und Gewissen. Dabei bricht sie den kategorischen Imperativ Kants auf einen sehr pragmatischen Ratschlag herunter: „Tun Sie einfach alles, was richtig ist. Das ist doch nicht so schwer. Und dann sagen Sie den anderen, sie sollen es genauso machen.“

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Piper Verlag, München 2022, gebunden, 464 Seiten, 22 Euro