© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Antikolonialismus zählte zum kulturellen Selbstverständnis der DDR
Früh Tabula rasa gemacht
(ob)

Für die Historiker Norman Aselmeyer, Stefan Jehne und Yves Müller offenbaren deutsche Erinnerungsdebatten seit der Wiedervereinigung eine scheunentorartige „Leerstelle“ (Merkur, 9/2022). Das zeige sich wieder einmal in der aktuellen Kontroverse um verdrängte deutsche „Kolonialschuld“ und eine daraus resultierende Pflicht zur Kulturgüterrückgabe. Hier sei doch die DDR der Berliner Republik, deren kollektives Gedächtnis sich erst vor einigen Jahren an die koloniale Vergangenheit zu erinnern begann, weit voraus gewesen. Der Bruch damit hatte im Arbeiter-und-Bauern-Staat seit 1974 sogar Verfassungsrang, und, so singen die drei Junghistoriker das Lob des SED-Regimes, der „antikoloniale Antiimperialismus“ gehörte von Anfang an zum „politisch-kulturellen Selbstverständnis“ der DDR. Da laut der marxistisch-leninistischen Doktrin der „Hitlerfaschismus“ nur eine Ausgeburt des kapitalistischen Imperialismus war, habe es in ihrer Geschichtspolitik auch nicht gegeben, was heute der alten und der neuen Bundesrepublik vorgehalten wird: eine Konkurrenz der Erinnerungen, in der der Holocaust den Kolonialismus lange verdrängte. Ihren „Antikolonialismus“ habe die SED gleich nach Kriegsende tatkräftig bewiesen, als sie 1945 in allen mitteldeutschen Städten „Tabula rasa“ mit Straßennamen machte, die Kolonialisten ehrten. Und mit den Namen verschwanden etliche Denkmäler wie der Kolonialbrunnen in Weimar. Nicht zu vergessen die alljährlich im Mai veranstaltete „Woche der Solidarität mit dem antiimperialistischen Kampf der Völker Afrikas“, die Solidarisierung mit schwarzen Freiheitskämpfern sowie die militärische Unterstützung für afrikanische Unabhängigkeitsbewegungen. 


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