© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Der Entfremdung entfliehen
Wie ein Blitz, der erleuchtet: Eine vierbändige Anthologie zeigt den Reichtum der spanischsprachigen Lyrik
Eberhard Straub

Der spanische Humanist Antonio de Nebrija veröffentlichte 1492 eine Grammatik der kastilischen Sprache, weil die Sprache das beste Werkzeug sei, um ein Reich zu beherrschen und zusammenzuhalten. Insofern war und ist sie die Gefährtin jedes Reichs und das geeignete Mittel, dessen Angelegenheiten ins rechte Licht zu rücken und sich in großem Ansehen zu halten. Die spanische Sprache wurde zur ersten Weltsprache, und sie wird, obwohl das Reich verschwunden ist, immer noch von mehr Menschen gesprochen als die angloamerikanische.

Die Sprache und das Schrifttum schufen den geschichtlich vertieften, geistigen Raum der Hispanidad, der eine stets bewegliche Einigkeit ermöglicht. Spanien steht im Mittelpunkt der Frankfurter Buchmesse, ein Spanien, das zwar mit den übrigen Europäern verbunden ist, aber wegen seiner Geschichte weiterhin dazu aufgefordert wird, Plus ultra, wie die Devise des Staatswappens lautet, über seine engen Grenzen hinauszublicken und ein Weltvolk zu bleiben.

Daran erinnert eine Anthologie: „Spanische und hispanoamerikanische Lyrik“ in vier umfangreichen und ausführlich kommentierten Bänden, herausgegeben von den Romanisten Martin von Koppenfels und Horst Weich. Sie reicht – mit den originalen Vorlagen und deutschen Übersetzungen – von den Anfängen im 12. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Diese Sammlung für ihre Epoche typischer sprachlicher Kunstwerke führt zugleich in die Kultur-, Geistes- und Gesellschaftsgeschichte Spaniens mit ihren transatlantischen Metamorphosen hinein.

Spanien, wie es sich allmählich seit dem 10. Jahrhundert entwickelte, beruhte auf antikem und westgotischem Erbe und befand sich in dauernder Auseinandersetzung mit Arabern und Juden, aber auch mit Provenzalen jenseits der Pyrenäen und mit den Italienern in Sizilien und Neapel. Das alles mußte unweigerlich seine Sprache und Literatur beeinflussen, nicht so sehr das internationale Latein der spanischen Gelehrten und Diplomaten, sondern die Umgangssprache der Adligen, des Volkes und vor allem der Priester und Mönche, um nicht die Verbindung mit den „Ungebildeten“ zu verlieren. Geistliche kannten als Seelsorger die Verwirrungen der Gefühle und konnten am besten auch als Dichter raten, wie man wieder zur Ruhe findet, oder davor warnen, nicht den Leidenschaften nachzugeben. 

Das Wort so geschickt wie die Waffen führen

Viele Theologen, ja einige Heilige gehören zu den großen Dichtern Spaniens. Sie waren nicht zimperlich und hatten keine Angst vor drastischen Schilderungen. Wenn es um die Aufgabe ging, in dieser Welt richtig zu leben, dann mußten auch Ritter, hohe Aristokraten oder sogar Könige sich zu Wort melden. Ihr Ideal war, das Wort so geschickt wie die Waffen zu führen. Sie redeten wie das Volk, allerdings bestrebt, die Umgangssprache zu verfeinern, sie dem elegant-verspielten Arabisch oder etwas später der vornehmen Einfachheit der Italiener anzugleichen. Die lateinischen Klassiker waren immer gegenwärtig, doch nur ein Element neben anderen, weil nun einmal überall in Europa auf römische Dichtungen, auf ihre Formen und Stoffe zurückgegriffen wurde.

Es sind vornehme Priester und große Herren, die aus der vor sich hin sprudelnden Sprache des Volkes, ohne sie zu unterdrücken, ein ungemein biegsames Instrument machten, geeignet für alle geselligen und bald auch wissenschaftlichen Zwecke. Um 1500 waren sich die Spanier sicher, die vorbildliche Sprache der Römer und Lateiner zu übertreffen, wie ihr Reich, als erstes Weltreich, das Römische in den Schatten stellte.

Ihre Dichter ängstigten sich nicht vor der verwirrenden, oft grotesken oder gar häßlichen Fülle des Lebens. Miguel de Cervantes resümierte eine besondere spanische Haltung, wenn er 1616 in seinem Roman „Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda“ die Dichtung mit der Sonne verglich, die unbehelligt alles Schmutzige bescheint, ohne daß sie sich selber befleckt, und so rein ist wie klares Wasser, das auch allem Unreinen zugute kommt. „Sie ist wie ein plötzlicher Blitz, der nicht zündet, sondern erleuchtet.“ Auf die Erleuchtung kam es an, in dieser Welt des Truges und Scheins sich in der Unterscheidung der Geister zu üben und Lüge und Täuschung zu ent-täuschen, um Klarheit und Sicherheit für sich zu gewinnen. Das ist eines der großen Themen und wird in immer neuen Variationen behandelt. Wer sich vom Irrtum und Betrug,  von dem verführerischen Blendwerk des Bösen bezaubern läßt, für den bleibt das Leben ein Traum, ein Reich der Schatten und Einbildungen, in dem er sich selbst verliert und sein Leben versäumt. Dann bleibt er nur ein Schiffbrüchiger, der sich an Planken oder anderem tragfähigen Material über Wasser hält und zu immer neuen Ufern getragen, auf unerwartete Inseln gespült oder an einsame Klippen geworfen wird. 

Die radikale Einsamkeit des einzelnen wird im Zusammenleben erfahren, das immer ein Drama ist, der Zusammenprall mit dem anderen, der gar nicht der Nächste ist, sondern ein Fremder, vor dem man sich hüten muß. Sie bedarf daher, um in ihr nicht zu scheitern, des Scharfsinns. Es ist diese Tugend, auf die der Spanier ungemein stolz war, weil sie ihn davor bewahrte, dauernd aufgeregt zu sein und im Lebenskampf untüchtig zu versagen.

Der spanische Scharfsinn veranlaßte sie, auf einige besondere lateinische Dichter oder Denker zurückzugreifen, allesamt „Spanier“ im kaiserlichen Rom: auf Seneca, Lukan oder Martial. Sie unterwiesen in der Kunst, Gelassenheit und überlegene Ruhe zu erreichen, alles allzu Menschliche hinter sich zu lassen und sich Gott und der Wahrheit und der Schönheit anzunähern, ohne die der Mensch, das Ebenbild Gottes, von sich abgelenkt, sich selbst zum Fremden wird. Die Tugenden sind die stets bereiten Helfer, die Mut machen, nicht vor der Herausforderung zu verzagen, das zu werden, was einer seiner Bestimmung nach sein soll und sein muß. Das ist ein römisch-antiker und zugleich ein christlicher Auftrag. Die Tugenden müssen gelebt werden, sie aktivieren den Christen zum Kämpfer und zum Ritter, doch nur durch die Liebe werden sie zu geselligen Mächten, die zeitweilig die Einsamkeit in dieser verworrenen Welt vergessen machen. 

Diese Themen konnten bis heute über Jahrhunderte hinweg immer wieder den Scharfsinn der Dichter beschäftigen, weil diese nie den Zusammenhang mit dem cancionero und dem romancero verloren, den sogenannten Volksliedern und Balladen, wie sie sich seit dem 13. Jahrhundert entwickelten. Einzelne Dichter und ihre Gesellen mochten der Versuchung erliegen, italienischen Vorbildern oder Moden allzu beflissen zu folgen, aber solche vorübergehenden, die spanische Dichtung durchaus anregenden Übertreibungen wurden rasch wieder gedämpft mit bewußter Besinnung auf die spanischen Traditionen und die eigenen Klassiker vom 15. bis zum späten 17. Jahrhundert. 

Auch im 20. Jahrhundert hat sich nichts daran geändert, daß unter Berufung auf die großen Sprach- und Formkünstler neue Wege eingeschlagen werden. Für die hispanoamerikanischen Dichter gehörte das Siglo de Oro, das „Goldene Zeitalter“, zu ihrer eigenen Geschichte, unübersehbar in barocken Kirchen und Palästen, so daß sie auf ihre Weise ein Erbe sich aneigneten, um es zu besitzen und die Spanier damit zu überraschen und die Hispanidad als Idee vor Erstarrung zu bewahren. 

Martin von Koppenfels und Horst Weich (Hrsg.): Spanische und hispanoamerikanische Lyrik, zweisprachig, 4 Bände im Schuber, C.H. Beck München 2022, gebunden, 2.641 Seiten, 148 Euro