© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Stell dir vor es ist Krieg und keiner kriegt’s hin.“ Das Motto, das mir im Kairos von 1989 in den Sinn gekommen war, meldet sich wieder bei mir. Am Küchenherd hadernd, im Hintergrund die Deutschlandfunk-Nachrichten, denke ich: „Die Soljanka würzen / Putin stürzen.“ Der Russe Michail, den ich kurz darauf zufällig auf dem U-Bahnhof treffe, seit Jahren hatte ich ihn nicht mehr gesehen, winkt nur ab, als ich ihn auf die dubiosen „Todesfälle“ von hohen Militärs und Oligarchen in Rußland anspreche, die seit Kriegsbeginn vorzugsweise kopfüber aus dem Fenster oder vom Balkon „springen“, getreu der neosowjetischen Losung „Selbstmord / Trendsport“. Laut Michail ist die Zahl derartiger Attentate inzwischen so hoch, daß auch er die Übersicht verloren habe. Ihm selbst sei es nur mit List und Tücke im Sommer gelungen, aus Rußland wieder auszureisen. Bevor er aussteigt, bitte ich ihn dennoch, für unsere Zeitung eine Liste all der unfreiwilligen Expreßreisenden ins Jenseits zu erstellen. Banaler sind Tage später die Kalamitäten im ICE der Strecke München – Berlin, auf dessen Lok die Losung „Schnellster Klimaschützer“ prangt. Im merklich unterkühlten Bistro frage ich den Kellner, ob hier schon für den Krieg Strom gespart werde. Der Mitarbeiter antwortet sichtlich entspannt, das sei „nur Heizungsausfall“.

„Trigger Warning“ im Kunsthaus „Acud“ / Pedell-Gebell wegen Bildern zum Asow-Regiment.

Während ich dies schreibe, kommt mir die Titelzeile „If I could turn back time“ von Cher aus dem Jahr 1989 in den Sinn. Parallel meldet der Deutschlandfunk aus Cherson, daß der Dirigent der dortigen Philharmonie, Jurij Kerpatenko, von den russischen Besatzern in seinem Haus erschossen wurde, weil er sich der Kollaboration widersetzt habe. Eine Woche zuvor im Kunsthaus „Acud“ in Berlin-Mitte, wo das Festival „Goethe-Institut im Exil“ stattfindet, weisen Schilder an beiden Seiten des Eingangstors auf ein „Trigger Warning“ hin, da bei Performances Luftschutzsirenen und intensives rotes Licht zum Einsatz kämen. Betroffene könnten sich an das „Awareness-Team“ wenden. Am Nachmittag zuvor war dafür keine Zeit. Ein Mitarbeiter erklärt mir, wie vor der Eröffnung der Hausmeister den Aushang von Bildern zum Asow-Regiment als „Nazi-Propaganda“ skandalisiert habe. Das Pedell-Gebell habe gereicht, so daß das Goethe-Institut beflissen sofort alles entfernt habe. Unwillkürlich denke ich, neben der ukrainischen Filmregisseurin, an den Beatles-Song „Happiness Is a Warm Gun“ mit John Lennons Liedzeile: „My finger on your trigger“ …


Anderntags begegnet mir im Straßenbild vor der Haustür wieder diese derangierte Figur: ein mittelalter „weißer Mann“ mit schiefer Körperhaltung, fast zahnlosem Gebiß und abgerissenen Klamotten. Auf der Rückseite seines Kapuzenpullis prangt das berüchtigte Motiv „Good Night White Pride“ – es wirkt gerade so, als hinke er infolge einer solchen Gewaltszene, in der ihn jemand am Boden liegend zusammengetreten hat. Tagtäglich versucht er vergeblich, das linke Magazin Arts of the Working Class an den Mann zu bringen, das kein Mensch braucht. Automatisch muß ich an die Songzeile John Lennons denken: „A working class hero is something to be“ – für mich klang das schon damals wie „beat“.