© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Der Sohn der Friseurin
Kino I: Der Film „Was dein Herz dir sagt – Adieu ihr Idioten!“ ist urkomisch. Dabei handelt er von ernsten Existenzkrisen
Dietmar Mehrens

Eine Schwerkranke, ein Lebensmüder und ein Blinder sitzen gemeinsam im Auto. Sagt der Blinde: ‘Behinderte kommen nicht in den Knast!’ ...“  So könnte ein Witz beginnen. Und es ist die Konstellation, aus der die französische Tragikomödie „Adieu les cons“ (deutscher Titel: „Was dein Herz dir sagt – Adieu ihr Idioten!“) eben das bezieht: ihren ganz eigenen Witz. Dabei sind die beiden parallel sich zutragenden Ereignisse, mit denen die von Albert Dupontel erdachte und inszenierte Geschichte ins Rollen kommt, alles andere als witzig: Die Friseurin Suze (Virginie Efira, bekannt aus „Birnenkuchen und Lavendel“) bekommt von ihrem Arzt eine erschütternde Diagnose gestellt: Autoimmunerkrankung. Restlebenszeit: Ehe der Doktor darüber Auskunft erteilen kann, ist der Stuhl, auf dem die 43jährige eben noch vor ihm saß, leer. 

Leer ist auch der Stuhl, auf dem der Experte für IT-Sicherheit beim Gesundheitsamt Jean-Baptiste Cuchas, kurz J. B. (Albert Dupontel), gerade noch seinem Chef gegenübersaß. Der hatte die traurige Aufgabe, J. B. zu eröffnen, daß der Posten in der Behörde, auf den er seit Jahren hingearbeitet hat, an einen jüngeren Kollegen vergeben wird. Das verdrießt J. B. dermaßen, daß er sich mit einem Paukenschlag aus diesem Leben zu verabschieden gedenkt: Mit einer tödlichen Patrone aus der in seinem Büro sorgsam installierten Selbstschußanlage. Die Selbstexekution soll gefilmt und seinem Chef als schweres Erbe hinterlassen werden. So lautet zumindest der Plan. „Adieu les cons!“ („Lebt wohl, ihr Idioten!“) ruft er zum vermeintlichen Abschied. 

Der Schuß geht anschließend zwar nicht nach hinten los, sondern zur Seite. Aber er löst trotzdem eine Reihe von Komplikationen aus. Das hängt mit Suze zusammen, die sich zum Zeitpunkt des Schusses im Nebenraum befindet, um aus dem zuständigen Angestellten des Gesundheitsamtes eine Information über den Verbleib ihres Sohnes herauszulocken, den die schwer Erkrankte als junges Mädel zur Adoption freigab. Im Angesicht des Todes ist in der Schönheitsberaterin nämlich der starke Wunsch erwachsen, ihren einzigen Sproß noch einmal zu sehen.

Suze bleibt zwar unverletzt, aber sie nutzt das von J. B. versehentlich geschossene Loch in der Wand und das dadurch ausgelöste Tohuwabohu, um sich die Dienste des Fehlschützen zu sichern. Und tatsächlich: Mit Hilfe des IT-Spezialisten gelangt Suze ins Archiv des Gesundheitsamtes, in dessen lichtarmem Keller der Archivar Monsieur Blin (Nicolas Marié) seinen Dienst verrichtet. Dessen Name enthält wohl nicht zufällig einen Anklang an das deutsche Wort „blind“, denn Blin hat das Augenlicht verloren, weswegen er in der Dunkelheit des Archivs in quasi idealer Weise die staatlich verordnete Behindertenquote in beamtenrechtlichen Dienstverhältnissen zu erfüllen hilft. Der blinde Blin macht das Duo zum Trio. Als er sich am Lenkrad eines Kraftfahrzeugs versucht, hat das fatale Folgen, auf die J. B. und Suze gut hätten verzichten können.

Der IT-Experte wird als Attentäter polizeilich gesucht

Da das IT-Genie inzwischen nämlich als Attentäter polizeilich gesucht wird, finden sich die beiden in der wenig erbaulichen Bonnie-und-Clyde-Rolle wieder: mutmaßlich brandgefährlich und mit übereifrigen Gesetzeshütern dicht auf ihren Fersen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit: Wird zuerst Suze ihren Sohn oder die Polizei sie finden? Und wenn Suze ihr Ziel erreicht, was dann?

Schon die überblickhafte Wiedergabe des turbulenten Inhalts macht deutlich, daß das Szenario von Albert Dupontel, der auch Regie und männliche Hauptrolle übernahm, fabelhaft gewoben ist. Herausgekommen ist ein Film wie aus einem Guß, ohne Leerlauf und ohne die unappetitlichen Derbheiten, auf die zeitgenössische Komödien so selten verzichten zu können meinen und wegen der man seine Kinder oft lieber ins Bett schickt als mitgucken läßt.

„Was dein Herz dir sagt – Adieu ihr Idioten!“ ist der Film gewordene Beweis, daß geistreich nicht geschmacklos und Humor nicht Niveauabsturz heißen muß. Die Tragikomödie ist lustig, ohne oberflächlich zu sein, langweilt keine Sekunde und hat völlig zu Recht in Frankreich sechs französische Filmpreise („Césars“) gewonnen, unter anderem für Drehbuch und Regie.

Einzig der elend lange deutsche Titel, mit dem pseudokreative PR-Strategen offenbar sowohl Romantiker als auch die Anhänger von Chaos-Komödien ködern möchten, ist ein schlechter Witz. 


Kinostart ist am 20. Oktober 2022