© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Das Ö bleibt
Kino II: Mit Ferienhaus-Romantik soll dem Erfolgsfilm „Der Vorname“ ein würdiger Nachfolger erwachsen. Klappt nur nicht
Dietmar Mehrens

Mir wäre es lieb, wenn wir mal ein Familientreffen ohne Drama über die Bühne kriegen würden“, bekennt die 47jährige Elisabeth (Caroline Peters), die gemeinsam mit ihrem Mann Stephan (Christoph Maria Herbst), ihrem Bruder Thomas (Florian David Fitz) und dessen Frau, der Werbefilmdarstellerin Anna (Janina Uhse), unterwegs ist zum Ferienhaus ihrer Mutter Dorothea (Iris Berben) auf Lanzarote. Die bekennende „Refugees Welcome“-Aktivistin, Hippiekleid-Trägerin und Haschkeks-Vertilgerin ist eine wunderbare Altachtundsechziger-Karikatur. Die auch im Rentenalter noch aktive Dame hat die Familie zu sich gebeten, weil es etwas zu verkünden gibt: Sie hat ihren Stiefsohn (Justus von Dohnányi) geehelicht, natürlich so stillos, wie es die Kommunarden von einst noch heute sind: ohne Pomp und Trara, ohne Einladung und Familienfeier. Damit ist klar: Aus Elisabeths Wunsch nach einem Familientreffen ohne Drama wird nichts.

Alle Fassaden bürgerlicher Solidität stürzen ein

Schon die Vermählung an sich sorgt für nur mühsam unterdrücktes Entsetzen. Dieses wächst weiter an, als Dorothea beichtet, daß sie ihren Familiennamen Böttcher abgelegt habe und jetzt König heiße. Thomas ist bestürzt. Ein Nachname stehe für Identität, „das, was bleibt“. Schließlich tausche ein Marathonläufer ja auch nicht kurz vor dem Ziel die Startnummer aus. „Immerhin bleibt noch das Ö“, tröstet ihn seine Schwester. Doch der Streit um den Nachnamen bildet natürlich nur die dünne Oberfläche viel tiefer liegender Konflikte: Thomas bangt um sein Erbe, Anna um ihre Karriere, Stephan ums Geld, und Elisabeth fühlt sich in ihrer Ehe mit Thomas wie ein Requisit. Wörtlich: wie eine „Zimmerpflanze“, nur daß die wenigstens ab und zu begossen werde. Die eigentliche Bombe aber ist: Dorothea will mit fast siebzig Jahren noch einmal Mutter werden, mit der lesbischen Nachbarstochter als Leihmutter!

„Der Nachname“ ist die Fortsetzung von „Der Vorname“ (2018), basierend auf dem französischen Theaterstück „Le prénom“ von Alexandre de La Patellière und Matthieu Delaporte. In dem Vorgängerfilm uferte bei den Böttchers eine Familiendiskussion um den Vornamen Adolf zu Spielfilmlänge aus. Das Konzept der Ensemble-Komödie ging wegen der spritzigen Dialoge erstaunlich gut auf: Der Film wurde zum Kassenschlager und in „Das perfekte Geheimnis“ bereits einmal erfolgreich kopiert (JF 45/19). Um dem Kammerspiel etwas mehr freien Himmel zu verschaffen, spielt die Handlung diesmal auf der Ferieninsel Lanzarote und dockt damit atmosphärisch an die ZDF-Liebesfilmreihe „Ein Sommer in ...“ an. Auch diesmal hat der Komödiant Christoph Maria Herbst die besten Einzeiler. In der Rolle eines beredsamen Professors für Geisteswissenschaften konnte er nahtlos an seine Rolle in „Contra“ (JF 44/21) anknüpfen, der Migrations-Burleske, bei der ebenfalls Sönke Wortmann Regie führte. 

Langeweile kommt bei der voll auf die Pointen von Autor Claudius Pläging setzenden Komödie zwar nicht auf, aber sein Drehbuch ist einfach zu klein für die große Leinwand. Der Regie von Sönke Wortmann ist das Bemühen anzumerken, dieselbe Kuh noch einmal zu melken, obwohl die meiste Milch schon aus dem Euter raus ist: Wieder erzählt der Regisseur eine Geschichte ohne Helden. Alle Fassaden bürgerlicher Solidität stürzen ein. Bei allen Hauptfiguren treten Lügen oder bislang bestens gehütete Geheimnisse zutage – Dekonstruktivismus auf allen Ebenen. Jeder hat die sprichwörtliche Leiche im Keller und muß, kaum daß er einen seiner Dialogpartner mit Dreck beworfen hat, erkennen, daß er im Glashaus sitzt. In jedem schlummern enttäuschte Erwartungen, verborgene Gefühle und gut getarnter Egoismus.

Man könnte Plägings Drehbuch lesen als Abrechnung mit den verlogenen Idealen der Achtundsechziger: Obwohl das Mantra von der freien Liebe längst zum Hintergrundrauschen der bundesdeutschen Gesellschaftspolitik geworden ist, träumen alte und junge Deutsche immer noch von der bürgerlichen Ehe, besteht das Familienmodell aus Mann & Frau & Kind fort, finden es Menschen komisch, wenn die Nachbarstochter zur Lesbe herangewachsen ist, und empfinden Leihmutterschaft als ethisch verwerflich. Doch Wortmann und Pläging fehlte der Mut zu einem Sarkasmus, der beißt und nicht nur bellt. Er endet immer da, wo ihm die heiligen Kühe der Orthodoxie im Wege stehen. So darf Iris Berben, auch im wahren Leben eine Ikone der Achtundsechziger, als die verschiedenen Konflikte am Sandstrand von Lanzarote ihren Siedepunkt erreichen, eine salomonische Säkularpredigt halten, in der am Ende wieder an genau den Ehrlich-sei-der-Mensch-Humanismus appelliert wird, der sich bislang in den Lebensläufen der Beteiligten ja gerade nicht bewährt hat. Die Aporien, in die das Festhalten an den verlogenen Hippie-Dogmen mündet, werden so, kaum daß sie zum Vorschein gekommen sind, gleich wieder zugeschüttet.