© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Unter der Maske des Dienens
Peter Hacks, Goethe und der ausgehöhlte Staat: Lobbygruppen und Kartelle üben eine demokratisch nicht legitimierte Macht aus
Thorsten Hinz

Die Zeit entgleitet den gewohnten Begriffen, und manches, was man einst verworfen hat, wird zu einer aufregenden Neuentdeckung. So geht es mit den „Essais“ des Schriftstellers und Dramatikers Peter Hacks, die 1984 im Reclam-Verlag (Leipzig) erschienen. Hacks, geboren 1928 in Breslau als Sohn eines Rechtsanwalts, gestorben 2003 in Berlin, war 1955 von München in die DDR übergesiedelt. Sein 1976 uraufgeführtes Einpersonenstück „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“, in dem die im Stich gelassene Goethe-Freundin Charlotte über den Italien-Flüchtigen von 1787/88 räsoniert, war ein Welterfolg, der bis nach Übersee reichte.

Doch im selben Jahr verübelte man ihm schwer, daß er dem aus der DDR ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann hinterherrief, er sei doch bloß der „Eduard Bernstein des Tingeltangel“ und längst „nicht so gut, wie man annimmt“. Bernstein – das wußte in der DDR jeder Schüler – galt als Erzvater des sozialdemokratischen Revisionismus und Verräter am Marxismus, weshalb Rosa Luxemburg ihn heftig kritisiert hatte. Hacks wurde als unbelehrbarer Stalinist und SED-Hofdichter abgestempelt. Bemerkenswert war in dem Zusammenhang jedoch, daß er seine Schmährede nicht wie ein gewöhnlicher Autor im SED-Zentralorgan Neues Deutschland, sondern in der exklusiven Zwei-Wochen-Zeitschrift Die Weltbühne veröffentlicht hatte. 

Es gibt starke Argumente, um ihn als das Urbild des Schriftstellers Eduard Eschschloraque in Uwe Tellkamps „Turm“ und „Schlaf in den Uhren“ anzusehen: ein hochintelligenter Unsympath mit aristokratischer Anmutung, der in etwa dem Typus des „Salonbolschewisten“ entspricht. Tellkamp-Exegeten zerbrechen sich den Kopf, ob der komplizierte Name auf den Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger anspielt, der die natürlichen Anlagen des Menschen „zu einer kunstvollen geistigen Konstitution“ veredeln wollte, oder ob es sich bloß um ein Anagramm von „Arschloch“ oder um beides handelt. 

Staatsdichter Hacks höhnte über Wolf Biermann und Günter Grass

Hacks war kein Parteipoet; er war gleichfalls von der Zensur des SED-Staates betroffen. Ein Staatsdichter hingegen war er zweifellos, aber einer von ganz eigener Art. Er hielt es für vermessen und sinnlos, das praktische Vorrecht der Macht gegenüber Künstlern und Intellektuellen anzuzweifeln. In einem Aufsatz zu Goethes „Torquato Tasso“ stellte er dem närrischen Dichter, der nicht einsehen mag, daß Kunst nicht Politik werden kann und daß das Wirkliche den Vorrang gegenüber dem Idealen hat, den nachsichtigen und toleranten Fürsten gegenüber. Eine Erklärung für Hacks’ eigenwillige Interpretation findet sich in der bezwingenden Logik der deutschen Teilung.

In einem 1966 verfaßten Text erklärte er Wolf Biermann und Günter Grass zu Ost-West-Zwillingsbrüdern im Geiste, zu „Wolf-Günter“. Mindestens zweierlei hatten „Wolf-Günter“ gemeinsam: den „Schnauzbart von der gemütlichsten Dämonie“ und den Ehrgeiz, ihren jeweiligen Staat durch das Belehren ihrer jeweiligen Regierung zu verbessern. Hacks höhnte über die zwei Spiegelbildlichen: „Aber man darf nicht vergessen:  sie sind Kleinbürger, und halbe. Ihnen fehlt jedes Verständnis für politische Wirklichkeit. Sie sehen nicht ein, daß die deutschen Staaten, der sozialistische wie der kapitalistische, genauso sind, wie sie nach Maßgabe der historischen Lage sein müssen; sie meinen, beide deutsche Staaten könnten, wenn sie nur wollten, ein wolf-günterscher sein.“ Was Hacks hier „historische Lage“ nennt, war die suspendierte Souveränität und Politikfähigkeit Deutschlands, die sich eben auch in Frontstellung der unter Vormundschaft stehenden zwei Teilstaaten zeigte.

Vollendung einer geschichtlichen Perspektivlosigkeit

Aus dieser Einsicht heraus schrieb er in dem neun Jahre später entstandenen „Tasso“-Aufsatz zum Konflikt zwischen den Künstlern und der SED-Führung, dieser könne nur „gruppenpsychologischer, nicht politischer Natur“ sein – eine Denkfigur, die 1990 Frank Schirrmacher im Literaturstreit aufgriff, freilich ohne ihre historisch-politische Herleitung nachzuvollziehen und ihre Tiefe auszumessen. Das Aufgehen der gescheiterten DDR in der mehr oder weniger spiegelbildlichen Bundesrepublik betrachtete Hacks, der über beide Staaten hinausgedacht hatte, als die Vollendung einer geschichtlichen Perspektivlosigkeit. Die öffentliche Empörung war einkalkuliert, als er nach der Wiedervereinigung in einem Gedicht den „Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower“ verwarf und deklamierte: „Der Erdenwunder schönstes war die Mauer.“ Da verwundert es nicht, daß er in Sahra Wagenknechts kommunistischer Sturm-und-Drang-Phase zu deren Ideengebern zählte.

Weitere Einblicke in sein Staats- und Weltbild gibt der Aufsatz „Über eine Goethesche Auskunft zu Fragen der Theaterarchitektur“ aus dem Jahr 1982. Zunächst geht es um den Brand des Weimarer Theaters am 22. März 1825. Knapp drei Wochen später schrieb Goethe an seinen Freund Zelter, für den Neubau habe es zwei alternierende Konzepte gegeben, das eines Volks- und das des Hoftheaters. Der Großherzog habe glücklicherweise ein Machtwort zugunsten des Hoftheaters gesprochen.

Goethes ästhetisches war auch ein politisches Statement, denn das Hoftheater enthielt eine Fürstenloge. Ihn einen „Höfling oder einen Fürstenknecht“ zu nennen, war laut Hacks absolut zutreffend, und zwar in einem absolut positiven Sinn. Goethe habe sich – wie Shakespeare – „in keinem entscheidenden Punkt von Belang (geirrt). Die Welt auf umfassende und makellose Weise ästhetisch in den Griff zu nehmen, ohne sie eigentlich begriffen zu haben, das geht nicht zu machen.“ Soll heißen, daß Goethe in Hacks’ Augen auch deswegen ein größerer Dichter als die Aufklärer seiner Zeit war, weil er die politische Situation, die mit der Französischen Revolution eingetreten war, besser verstanden hatte als jene.

Das Bürgertum, so Hacks, ist ab der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert unfähig, „einen republikanischen Staat“ zu machen. „Liberalismus und Geist gehen seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr zusammen.“ Dabei mag er an die widerlichen Krämerseelen aus Balzacs Romanen gedacht haben, aus denen auch Marx reichlich geschöpft hatte. Daher sei der Bonapartismus die eigentliche Hoffnung nicht nur Frankreichs, sondern auch Deutschlands und ganz Europas gewesen. Bonapartismus bedeutete, eine „Dreikörpergesellschaft“ staatlich zu überformen und ihre Widersprüche zum Ausgleich zu bringen. Neben den Adel und das Bürgertum war jetzt die „Demokratie“ getreten, womit Hacks das Begehren und die Interessen des Dritten und Vierten Standes meint. Keine dieser Klassen und Schichten sei in der Lage gewesen, die Alleinherrschaft zu erlangen. Der Adel hatte die Selbstverständlichkeit seiner Macht eingebüßt; das Bürgertum fürchtete die unteren Klassen und schreckte vor der völligen Entmachtung der Aristokratie zurück, um keine neuen revolutionären Instinkte zu wecken. Die Besitzlosen aber hatten furchtbare Schläge erlitten und waren bis auf weiteres unfähig zu entschlossenem Handeln. 

In einer geschichtlichen Situation, in der jede Klasse sich im „Zustande der Niedergeschlagenheit“ befinde, gestatte die Gesellschaft es „dem Staat, in Abhängigkeit von keiner einzelnen Klasse und mithin einer verhältnismäßigen Selbständigkeit, übergeordneten Aufgaben sich hinzugeben und (…) das Vorrecht der Leistung und einzelnen Begabung zu fördern“. Eben dieser Staatsgedanke finde seine Ausformung bei Napoleon, der keiner Klasse verpflichtet war, sondern den souveränen Staat selbst verkörperte. Von dort entsprang Goethes Bewunderung für Napoleon, den er am Ende freilich für unfähig hielt, die bonapartistische Idee selber zu verwirklichen. Goethe sei in seinem Denken über die kapitalistische Gesellschaft und sogar über den Sozialismus hinausgegangen, in denen der Staat das Machtinstrument einer bestimmten  Klasse sei. 

Hacks übersieht keineswegs, daß im 20. Jahrhundert die Menschen oft mehr mit dem Staat zu tun hätten, als ihnen lieb sein konnte. Der totalitäre Staat löschte das gesellschaftliche Leben aus bzw. nahm ihm seine natürliche Spontanität, indem er immer mehr Lebensbereiche unter sein Reglement und seine Kontrolle zwang. Darüber solle man jedoch „nicht vergessen, ein wie grauenvolles und beengendes Zusammenwirken von Zwängen das Verschwinden des Staates in der Gesellschaft bedeuten würde“. 

In der Tat: Im Dritten Reich ließ die siegreiche NS-Bewegung den Staat und seine Institutionen bestehen, höhlte ihn jedoch von innen aus und machte ihn sukzessive zu ihrem Werkzeug. Den evolutionären Vorgang hat bekanntlich Ernst

Fraenkel als „Doppelstaat“-Phänomen beschrieben. Die Kommunisten, einmal an die Macht gelangt, gingen revolutionär zu Werke, schlugen sofort den alten Machtapparat in Stücke und erschufen einen neuen, der die politische Macht der Parteinomenklatura und ihre sozialen Privilegien dauerhaft sicherte. Der Nationalsozialismus und der Kommunismus waren insofern staatsfeindliche Bewegungen, die in weiten Teilen der Gesellschaft bereits großen Rückhalt gewonnen hatten, ehe sie sich den Staat aneigneten und über die restlichen Teile der Gesellschaft ihre totale Herrschaft errichteten.

Die westlichen Zivilgesellschaften definieren sich anders: als die Gesamtheit freiwilliger Assoziationen freier Bürger, die ihre subjektiven Interessen und Ideen unter Wahrung des Gemeinwohls vertreten und das öffentliche Leben mitgestalten. Das alles gibt es, aber zunehmend handelt es sich um straff geführte Organisationen, Lobbygruppen und Machtkartelle, um international vernetzte und gesteuerte NGOs, die den Staat aushöhlen, in Beschlag nehmen und eine demokratisch nicht legitimierte Macht ausüben. Die Installierung von Jennifer Morgan, US-Bürgerin und bis eben Co-Chefin von Greenpeace International, als Staatssekretärin und „Klimaschutzbeauftragte“ im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik ist ein drastisches Beispiel für eine Entwicklung, die geradewegs in die postmodern aufgefächerte Neuauflage des „Doppelstaates“ führt. Häufig handelt es sich um ideologisch inspirierte, semireligiöse Erweckungsbewegungen. Irrationale politische Entscheidungen liegen dann in der Natur der Sache.

Ein Fürst verbittet sich den Einfluß einzelner Interessengruppen

Hacks bezog sich auf Hegel, der gegen das „niederträchtige Bewußtein“ der Staatsverneiner anredete und -schrieb. Seine besondere Abneigung, so Hacks, habe denen gegolten, „die ihre Unterhöhlungsabsichten unter der Maske besonders todbereiten und edelmütigen Dienens tarnen“. Konsequenterweise teilte Hacks auch Goethes Abneigung gegen die Romantiker, die Napoleon als Feind der Freiheit bekämpften, um später in den Staats- und Polizeidienst einzutreten oder zum Katholizismus zu konvertieren. „Die Hasser aller Einrichtungen, hierauf kann man sich verlassen, richten sich am behaglichsten im Saustall ein, und das bloß Verneinende beruhigt sich am Ende beim bloß Positiven, der Polizei.“ Prägnanter lassen sich auch die Metamorphosen der 68er und der Grünen kaum in Worte fassen.

Zurück zum Theaterstreit. Die „bahnhofsartigen, mit gut abwaschbaren Werkstoffen ausgekleideten“ Volkstheater sind die Versammlungsorte der atomisierten Masse, welche die gesellschaftlichen Widersprüche auf der „untersten Einmütigkeits-ebene“ ausgleichen möchte: entweder auf der Ebene des primitiven Konsumenten oder des fanatisierten Ideologen. Es bedarf also der Fürstenloge des Hoftheaters, denn von dort aus hat man das Ganze im Blick. „Der fürstliche Geschmack ist die Draufsicht auf die Widersprüche.“ 

Der Fürst nach dem Geschmack von Goethe und Hacks muß nicht adligen Geblüts sein. Er ist das Symbol eines bonapartistisch verstandenen Staates, der sich die Indienstnahme und erst recht die Eroberung durch einzelne Interessengruppen streng verbittet. Erweisen sich der Fürstenknecht und der Stalinist am Ende als die besseren Demokraten und die wahren Freunde der Verfassung?