© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Mit der Vermassung der Gesellschaft stirbt auch der bürgerliche Kapitalismus aus, und eine neue Elite übernimmt
Das Regime der Manager
Björn Harms

Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts erlebt der Westen einen tiefgreifenden Wandel seiner Gesellschaftsstruktur, der in der Geschichte der Menschheit seinesgleichen sucht. Dieser evolutionäre Prozeß setzt sich beständig fort und dürfte auf absehbare Zeit auch nicht enden. Das Wesen dieses Wandels ist weniger in den Ideologien des Westens zu finden, sondern bahnt sich in einer ausufernden Vermassung fast aller Bereiche organisierter menschlicher Tätigkeit seinen Weg. Staaten und supranationale Organisationen wie die Europäische Union sind zu gefräßigen Bürokratiemonstern mutiert. In der Unternehmens- und Bankenwelt dominieren unangreifbare Oligopole. Die Massenmedien folgen konformen Narrativen, verbreitet von austauschbaren Propagandisten. Universitäten spucken dazu den perfekt dressierten, technokratischen Nachwuchs auf den Markt. „Big Government“, „Big Tech“, „Big Banks“, „Big Pharma“ oder „Big Media“ lauten im englischsprachigen Raum die passenden Schlagworte. Das Traditionelle, das Besondere, das Einzigartige läßt sich in unseren wachsenden Konsumgesellschaften nur noch mit der Lupe finden. Mit dem Fortschritt der Technik formen Massenorganisationen und Bürokratie die Welt, wie wir sie heute kennen.

Doch wer kontrolliert die ausufernden Superorganismen? Die bürgerlichen Kapitalisten im Stile des 19. Jahrhunderts sind es nicht mehr. Nicht nur würde ihnen die Zeit fehlen, um den Überblick über Konglomerate und Konzerne zu wahren, sondern es mangelt ihnen auch an den spezieller werdenden Kenntnissen, die nötig sind, um einzelne Operationsbereiche zu führen. MBA-Absolventen, Betriebswirte, Sozialwissenschaftler, Juristen und andere Experten drängen wie am Fließband in Staatsapparate und Unternehmenswelt, um dort die Richtung zu bestimmen. Ein Blick in die Historie zeigt, was sich somit zwangsläufig für Konflikte zwischen alten und neuen Eliten entwickeln. Was machte Pippin der Jüngere 751, nachdem die Hausmeier die faktische Macht im Frankenreich bereits länger innehatten? Er setzte den Merowingerkönig Childerich III. ab und katapultierte ihn in die Bedeutungslosigkeit.

Vor 82 Jahren fragte sich auch der US-Soziologe James Burnham: Wer herrscht in den westlichen Ländern tatsächlich? Und vor allem: Wer wird in Zukunft herrschen? Seine Gedanken mündeten 1941 in ein bahnbrechendes Werk, das den damals 35jährigen schlagartig berühmt machte. „The Managerial Revolution: What is Happening in the World“ lautete der Titel. 1949 erschien das Buch „Das Regime der Manager“ auch in deutscher Sprache, heute ist es allerdings nur noch antiquarisch zu erhalten. Zwar bezog der langjährige Trotzkist Burnham, der mit Beginn des Zweiten Weltkriegs ins konservative Lager wechselte und sich dort zu einem Wortführer aufschwang, weltanschaulich klare Positionen – hier aber versuchte er als Wissenschaftler eine objektive, soziologische Analyse zu liefern.

Macht in einem komplexen System, das setzte Burnham voraus, besitzen immer diejenigen, die „auf Grund ihrer wirtschaftlichen oder sozialen Stellung ein besonderes Maß an Kontrolle über den Zugang zu Produktionsmitteln besitzen und bei der Verteilung von deren Produkten bevorzugt werden“. Im bürgerlichen Kapitalismus waren die Kapitalisten eben deshalb die herrschende Klasse, weil sie als Individuen die Produktionsmittel besaßen und über die Verteilung entschieden.

Burnham war der Ansicht, daß das private Unternehmertum als Motor der herrschenden Klasse im Sterben lag. An seine Stelle würde jedoch nicht der Sozialismus treten, wie es in seiner Zeit aus allen Richtungen unkte. Es wären die „Manager“, die eine neue Elite zu bilden begännen und sich mit ihren Verbündeten im modernen, bürokratischen Staat zusammenschließen würden. Das Ergebnis wäre eine Ordnung, in der Staat und Wirtschaft zunehmend verschmelzen. Eine staatlich-private Chimäre (JF 13/22) also, wie sie uns heute überall begegnet.

Wer sind nun diese Manager? Wir denken zunächst an den klassischen Manager eines Unternehmens. Burnhams Deutung ging darüber hinaus. Manager, das sind Personen, die über bestimmte technische Fähigkeiten verfügen, die auf soziale, wirtschaftliche und politische Funktionen anwendbar sind. Gemeint sind also Geschäftsführer, Verwaltungsdirektoren, Administratoren, Technokraten, Büroleiter oder auch Genderbeauftragte. Es gibt die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung, es gibt Virologen, die die Politik mitbestimmen, und den Vizechef Deutschland von Google – alle drei gehören derselben soziologischen Kategorie an.

Hierin liegt die eigentliche Sozialrevolution der Moderne: Während nach dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus der Eigentümer auch die Kontrolle über die Produktionsmittel besaß, ist dies seit dem Erster Weltkrieg immer weniger Fall. Die Massenorganisationen in Staat und Wirtschaft haben den bürgerlichen Kapitalismus, gekennzeichnet durch Begriffe wie Eigentum, Individualismus, Naturrecht, Vererbung, Tradition und Privatunternehmen, längst verdrängt. Eine zentrale Planung ist an seine Stelle getreten. Die Zahl der Familienunternehmen verringert sich, da sie von den Oligopolen und Kartellen bei noch geringer Marktgröße sofort geschluckt werden. Immer mehr Prozesse werden automatisch an die Gruppe der Manager ausgelagert. Eigentümer sind heutzutage lediglich Aktienbesitzer mit einem rein passiven Verhältnis zum Unternehmen. Sie lauern auf Dividenden oder Wachstum – mehr aber bleibt ihnen kaum noch. Das läßt sich für immer mehr Industriezweige feststellen.

Ein konkretes Beispiel: Zehn Konzerne kontrollieren fast alle Marken, die wir im Supermarkt zu Gesicht bekommen. Nestlé, PepsiCo, Danone, Mondelez, Coca-Cola, Unilever, Kellogg’s, KraftHeinz, Mars und General Mills bestimmen, was wir essen. Bis auf Mars wird keiner dieser Konzerne von einer Familie geführt oder hat einen Mehrheitsbesitzer, der allein bestimmen könnte. Bei Nestlé, dem größten Nahrungsmittelkonzern der Welt, ist die Nestlé S.A. mit nur drei Prozent der größte Anteilseigner, dahinter folgt die Vanguard Group mit 2,7 Prozent der Aktien. Wer diese Konzerne beherrscht, das sind die Manager. 

Natürlich spielt Eigentum noch eine große Rolle, doch das Privateigentum? Längst liegt nicht mehr im reinen Profit, sondern im durch die Zentralbanken zusätzlich geschaffenen Geld der neue Treibstoff des Systems. Ein System, in dem immer neue Kredite fortlaufenden Konsum garantieren sollen und nach Möglichkeit alles gemietet oder geliehen wird. Letztlich findet das Regime der Manager seine Konsequenz in einem mittlerweile geläufigen Spruch: „Du wirst nichts besitzen und du wirst glücklich sein.“

Die heutige Plattformökonomie, die von den großen Tech-Konzernen beherrscht wird, beweist zudem: Ähnlich wie im Mittelalter aus Feudalherren auch Kapitalisten werden konnten, bilden heute auch Kapitalisten einen Teil der neuen Manager-Elite. Die ursprünglich rein staatlich garantierte Meinungsfreiheit wurde an die Chefs von Google, Apple, Amazon oder Meta ausgelagert, wird von ihnen im Verbund mit „Big Media“ kontrolliert und beliebig manipuliert.

Das Regime der Manager ist jedoch keinesfalls eine geheime Verschwörung einzelner Personen. Es ist die nüchterne Betrachtung eines fortlaufenden Prozesses. Zunehmend verlieren die alten Eliten an Macht, auch hierzulande: Zwei Drittel der 100 reichsten Deutschen sind Erben, man denke an die Familien Oetker, Henkel, Liebherr oder Bahlsen. Anders als ihre Vorfahren haben die Erben jedoch kaum Einblick in die Konzerne. Sind sie erst abgeschoben auf einen Aufsichtsratsposten, wird ihnen schnell die eigene Nutzlosigkeit bewußt. 

Es ist kein Zufall: Auch in Deutschland überlegen immer mehr Millionäre ihr gigantisches Erbe zu spenden. Geht es direkt an die Ärmsten der Armen? Nein. Es fließt an die entsprechenden Wohltätigkeitsorganisationen und NGOs. Wer beherrscht diese NGOs? Richtig, die Managerklasse. Selbst eine Millionen-Erbin wie die 29jährige Verena Bahlsen, die sich ausdrücklich gegen die Spendenkultur wendet, beweist eigentlich nur ihre Funktionslosigkeit: „Ich bin Kapitalist. Ich will Geld verdienen und mir Segeljachten kaufen von meinen Dividenden und sowas“, verkündete sie in einer öffentlichen Rede. Genau das ist in der Epoche der Manager die Rolle von reichen Kapitalisten, wie sie auch Burnham vorausahnte. Sie können konsumieren, wirklichen Einfluß haben sie keinen mehr. Es sind die Manager, die über die Produktionsmittel und deren Verteilung herrschen. Wohin sich die Gesellschaft entwickelt, entscheiden sie.

Die Manager wiederum haben wenig Anreiz, die Stellung des Privateigentums zu bewahren, da sie ihre Position nicht durch Eigentum, sondern aufgrund ihrer zugeschriebenen oder tatsächlichen Kompetenz innehaben. Sie wollen ihre Budgets und ihre Macht vergrößern. Dafür nutzen sie Staatsapparate, die ständig wachsen. Burnham schreibt: „Nicht durch Eigentumsrechte, die sie als einzelne besitzen, werden die Manager die Kontrolle über die Produktionsmittel ausüben und bei der Verteilung bevorzugt werden, sondern mittelbar durch die Kontrolle über den Staat, der seinerseits die Produktionsmittel zu Eigentum besitzt und kontrolliert.“

Tatsächlich werden immer mehr Kompetenzen des Staates an die Manager ausgelagert. Wer hat in der Corona-Zeit tatsächlich die Handlungsmaxime dominiert? Es waren Wissenschaftler wie der Virologe Christian Drosten, ein Manager par excellence. Auch an anderen Stellen kontrollieren sie die staatlich-private Chimäre. Das Oligopol der vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (Deloitte, Ernst & Young, KPMG und PwC) ist nicht nur bei jeder größeren Firmenübernahme involviert. Die externen Manager erhalten genauso millionenschwere staatliche Beschaffungsaufträge, etwa im Falle der Bundeswehr, oder sie dienen sich als Berater überforderter Bundesministerien an.

Ähnlich verkehren auch die Manager der Zivilgesellschaft. Kein Unternehmen und erst recht keine staatliche Stelle kommt ohne Frauen-, Gender- oder Inklusionsbeauftragte aus. Die „woken“ Diversity-Experten, die in gigantischen Zahlen aus den Universitäten strömen, stehen überall beratend zur Seite und stellen öffentliche Forderungen auf. Ob es sich um Gesetzesvorhaben der Regierung dreht, gesellschaftspolitische Richtungsentscheidungen größerer Konzerne oder Zensurmaßnahmen der Tech-Plattformen – meist haben dieselben austauschbaren Figuren ihre Finger mit im Spiel.

Hier läßt sich auch wunderbar die Funktion der „woken“ Ideologie erkennen. „Damit eine Ideologie eine managerielle Ideologie wird, brauchen nicht die Manager sie erfunden oder als erste angenommen zu haben“, meint Burnham. Es kommt allein auf die gesellschaftliche Wirkung an. Und Managerismus braucht nun mal Vermittlung. Die ausufernden Budgets diverser Vielfaltsapologeten müssen begründet sein. „Wokeness“ dient als rücksichtslose Ideologie, die fast jeden Akt institutioneller Subversion und Übervorteilung rechtfertigen kann. Sie stellt die gesellschaftliche Konformität her, die der Manager-Kapitalismus benötigt. Familien, lokale Gemeinschaften, Individualismus und Sexualmoral finden darin keinen Platz mehr. Alle Institutionen, ob sie nun öffentlich oder privat sind, frönen dem Streben nach einer bunten, multikulturellen Gesellschaft. Doch von echter „Diversity“ kann im Massenzeitalter natürlich niemals die Rede sein, wenn in den Institutionen zwar alle unterschiedlich aussehen, aber auch alle gleich denken.






Björn Harms, Jahrgang 1991, ist JF-Redakteur. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie in Dresden und Berlin und schreibt seit 2017 für die Zeitung, deren Meinungsseite er verantwortet.

Foto: Manager regieren die Welt: Gefragt sind technische Fähigkeiten, die auf soziale, wirtschaftliche und politische Funktionen anwendbar sind