© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Rom sieht schwarz
Vor 100 Jahren begann mit dem „Marsch auf Rom“ der Faschisten Mussolinis ein Regierungswechsel in Italien
Ralf Fritzsche

Es war der Morgen des 30. Oktober 1922. König Viktor Emanuel III. von Italien empfing einen Mann im Schwarzhemd namens Benito Mussolini und ernannte ihn zum Ministerpräsidenten. Bei seinem Treffen mit dem König soll Mussolini eingangs gesagt haben: „Majestät, ich komme vom Schlachtfeld.“

Mit diesem Schlachtfeld, welches er selbst gar nicht betreten hatte, waren nur die aufgeweichten Felder vor den Toren Roms gemeint, wo etwa 40.000 Faschisten hungrig und frierend im Dauerregen ausharrten und auf einen Angriffsbefehl auf die „ewige Stadt“ warteten. Dieser kam nicht, wohl aber hielten die Verbände am 31. Oktober 1922 eine Parade in Rom ab. Begleitet wurde diese Zeremonie mit Überfällen auf Sozialisten und Kommunisten sowie deren Büros. Die Ära der faschistischen Herrschaft in Italien hatte begonnen.

Die Vorgeschichte dieser Ereignisse ist vielschichtig. Nach dem Ersten Weltkrieg war der italienische Staat praktisch bankrott. Die Regierung versuchte die Krise mit Steuererhöhungen und neuen staatlichen Monopolen, zum Beispiel auf Zucker, Kaffee und Kohle zu bekämpfen. Bis 1921 sank die Währung Lira auf nur noch ein Fünftel des Wertes von 1913, was wiederum zu drastischen Preiserhöhungen führte. Dies bewirkte, zumal bei sozialistisch gesinnten Italienern vor allem im wirtschaftlich entwickelten Norden, im Herbst 1920 Dauerstreiks und Fabrikbesetzungen. Auch viele Pächter und Landarbeiter erhoben sich gegen die Grundbesitzer und streikten. Dennoch blieb die Revolution von links erstaunlich unblutig, doch die vielfältigen Aktionen und viele revolutionäre Reden verunsicherten das Bürgertum. Opposition kam ebenso von rechts. 

Zwar gehörte Italien zu den Siegern des Ersten Weltkrieges, erhielt aber weder wie nach 1915 erhofft ganz Dalmatien noch die mehrheitlich von Italienern bewohnte Hafenstadt Fiume (heute Rijeka) aus der Konkursmasse des k.u.k. Reiches als Belohnung. Im Vertrag von Saint-Germain wurden dem „kleinen Sieger“ lediglich die Brennergrenze, das Kanaltal im äußersten Nordosten und Istrien mit Triest als Beute zugesprochen. Im nationalen Bürgertum verbreitete sich daher die Meinung, daß der Krieg zu wenig für Italien eingebracht habe, so daß man vom „verstümmelten Sieg“ (vittoria mutilata) sprach. Ein berühmter Vertreter dieser Meinung war der Dichter Gabriele D’Annunzio, welcher am 12. September 1919 Fiume mit Freischärlern besetzte und für 15 Monate dort einen Freistaat etablierte, der sogar umgehend von den USA, Frankreich und Großbritannien anerkannt wurde.

Staatliche Behörden duldeten die Faschisten oder arbeiteten ihnen zu

In diesen Wirren vollzog sich der Aufstieg Mussolinis. Dieser Mann begann seine politische Karriere als Sozialist und Marxist, trat allerdings seit Oktober 1914 für den Kriegseintritt Italiens auf seiten der Entente und eine nationalistische Politik ein, bevor er sich endgültig vom Marxismus abwendete. Am 23. März 1919 wurde in Mailand die faschistische Bewegung gegründet mit ihren „Fasci italiani di combattimento“ („italienische Kampfverbände“), welche zunächst nur als sozialrevolutionäre Vereinigung gedacht war und erst im November 1921 formell in eine Partei umgewandelt wurde. Ab dem Ende des Jahres 1920 begann in größerem Maßstab die Gegenreaktion der Fasci und der squadre d’azione („Aktionstruppen“) gegen sozialistische Politiker und Einrichtungen. Diese squadre verfügten über aus dem Krieg kampferfahrene Soldaten, teilweis skrupellose Hasardeure und fanatische Offiziere, aber auch viele ältere Schüler und Studenten zählten zu ihren Anhängern.

Bei den Angriffen der Faschisten wurden nicht nur Einrichtungen wie Arbeitskammern, Volkshäuser und Redaktionen geplündert und zerstört. Sogar ganze Gemeindeverwaltungen mit sozialistischen Mehrheiten wurden angegriffen. Als besonders makabre Methode wurde vielen sozialistischen Politikern oft Rizinusöl eingeflößt. Hierbei kam den Faschisten zugute, daß der Staat und die Behörden nicht gegen sie einschritten, ja in ihnen sogar Verbündete sahen, da sie gegen eine befürchtete sozialistische Revolution die Ordnung aufrechterhielten. Vor allem der ab Februar 1922 regierende Ministerpräsident Luigi Facta verhielt sich ziemlich passiv und nachgiebig gegenüber den Faschisten und deren Gewalt auf der Straße. Auf die Forderung derselben hin entfernte er sogar den sozialistischen Präfekten von Bologna.

Als der Faschist Italo Balbo mit Tausenden von Anhängern in den letzten Julitagen Ravenna besetzte, die Stadt praktisch militärisch kontrolliert e und viele sozialistische Gebäude und Institutionen zerstörte, erhielt er von den staatlichen Behörden Lastwagen und Benzin. Sozialisten, die seit 1921 existierenden Kommunisten und die Anarchisten riefen daraufhin zum Generalstreik auf. Vielerorts arbeitete die Polizei nun mit den Faschisten, welche mittlerweile oft als Ordnungshüter anerkannt wurden, zusammen und zerschlug den Streik. Viele Faschisten forderten daraufhin Neuwahlen und drohten mit einem „Marsch auf Rom“, so ihrer Bitte nicht entsprochen werde. Als Generalprobe konnte hierbei der „Marsch auf Bozen“ (JF 40/22) angeführt werden, der sich gegen die deutsche Volksgruppe in Südtirol gerichtet hatte.

Mussolini versuchte indes parallel dazu, durch Verhandlungen mit etablierten Politikern, durch Zugeständnisse an das Kapital und vor allem durch loyale Bekundungen zu Heer, Monarchie und Kirche, die Macht im Staate auf legale Weise zu erlangen. Als jedoch eine Regierungsübernahme durch den ehemaligen Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti drohte, handelten die Faschisten: In der Nacht vom 27. zum 28. Oktober 1922 wurden in großen Teilen Norditaliens öffentliche Gebäude und teilweise sogar Kasernen besetzt. Geschossen wurde nicht, weder von seiten des Militärs, noch von seiten der squadre. 

Vorbild für Hitlers „Marsch auf Berlin“ vom 9. November 1923

Daß der Marsch auf Rom nicht so martialisch stattfand, zeigt die oft große Herzlichkeit zwischen den Faschisten und den Behörden. So saßen in Triest die faschistischen Führer, der kommandierende General und die obersten Lokalbehörden bei einem Glas Sekt zusammen, als der Marsch begann. Man scherzte zusammen, daß man sich jetzt eigentlich gegenseitg erschießen müsse. Mehrere Kolonnen zogen – teilweise zu Fuß, teilweise mit gekaperten Zügen – gegen Rom: Eine aus der Toskana von Norden, zwei von Osten her und eine große Abteilung stand in Umbrien, in der Stadt Foligno, zur Reserve. Diese Kolonnen waren allerdings schlecht bewaffnet. Teilweise besaßen sie nur Knüppel, keine einzige Kanone zum Beschuß der Stadt war vorhanden.

Als in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober 1922 die Nachrichten über den Marsch und die Besetzung der staatlichen Institutionen ankommen, rief Facta sofort sein Kabinett ein. Noch in derselben Nacht wurde der Belagerungszustand von der Regierung beschlossen. Dies sollte das sofortige Losschlagen gegen die Faschisten außerhalb der Stadt ermöglichen. Danach trat das ganze Kabinett zurück. Hätte die Armee, befehligt von einem antifaschistischen General, eingegriffen, hätten die im Regen kampierenden Faschisten keine Chance gegen die 28.000 gut ausgebildeten Soldaten der Garnison von Rom gehabt. Doch König Viktor Emanuel III. verweigerte am Morgen des 28. Oktober seine Unterschrift unter das Dekret, so daß der Belagerungszustand letztlich aufgehoben werden mußte.

Die Gründe für das Verhalten des Königs sind wahrscheinlich vielfältiger Natur gewesen: Furcht vor Bürgerkrieg und Wiedererstarken der Sozialisten, Abneigung gegen das Parlament als solchem, die Beeinflussung durch konservative Politiker. Auch sein Vetter, der Herzog von Aosta, sympathisierte mit den Faschisten, daher lag es für den König nahe zu glauben, daß dieser nach dem Thron schielte. In jedem Falle verlangte Mussolini von Mailand aus nun die ganze Macht. Auf Bestellung des Königs bestieg er am 29. Oktober den Schlafwagen nach Rom und traf lange vor seinen Legionen in Rom ein.

So begann die Ära der faschistischen Regierung in Italien. Hier haben wir es im übrigen mit dem eigentlich historischen Faschismus zu tun, dessen Begriff heute sehr großzügig und inflationär gebraucht wird. Er herrschte in Italien bis 1943, mit Vorbildcharakter für viele rechte und autoritäre politische Bewegungen in ganz Europa. Direktes Vorbild besaß der Marsch auf Rom für Hitler, als er am 9. November 1923 einen „Marsch auf Berlin“ vollziehen wollte. Doch dieser wurde schon an der Feldherrenhalle in München gestoppt, bevor er überhaupt richtig begann.

Foto: Benito Mussolini (im Anzug) mit den faschistischen Mitstreitern Cesare Maria De Vecchi  (Glatze) und Emilio De Bono (weißer Kinnbart) beim Einzug in Rom am 30. Oktober 1922: Kampferfahrene und skrupellose Soldaten; Faschistische Truppen demonstrieren vor dem Palast, während drinnen Mussolini mit König Viktor Emanuel verhandelt: Hätte die Armee der Garnison in Rom eingegriffen, wären die Faschisten chancenlos gewesen