© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Der Konflikt schwelt bis heute weiter
Vor 75 Jahren brach der Erste Indisch-Pakistanische Krieg aus
Thomas Schäfer

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit anstand, forderten die Muslime in der britischen Kronkolonie einen separaten Staat für Angehörige ihres Glaubens. Deshalb wurde am 3. Juni 1947 beschlossen, Britisch-Indien in das Dominion of India und das Dominion of Pakistan aufzuteilen. Gleichzeitig regelte der vom britischen Parlament verabschiedete Indian Independence Act, was mit den 565 nominell unabhängigen Fürstentümern geschehen sollte, die zusammen immerhin 48 Prozent der Fläche des Subkontinents beanspruchten: Sie hatten die Möglichkeit, sich entweder einem der beiden neuen Staaten anzuschließen oder unabhängig zu bleiben.

Letzteres war dann auch die Absicht des hinduistischen Maharadschas von Jammu und Kaschmir, Hari Singh. Denn dieser ging davon aus, daß die mehrheitlich muslimische Bevölkerung in seinem Staat einen Beitritt zu Indien ablehnen würde, während eine Fusion mit Pakistan fatal für die Minderheiten der Hindus und Sikhs wäre. Allerdings hatte Hari Singh dabei die Rechnung ohne die pakistanische Militärführung gemacht, die Pläne für eine Operation namens Gulmarg schmiedete, welche am 20. August 1947, also nur wenige Tage nach der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans, fertig vorlagen: Insgesamt 20 Milizen aus je rund eintausend paschtunischen Stammeskriegern sollten in Jammu und Kaschmir einfallen und dann zusammen mit den dortigen muslimischen Rebellen, die bereits im Distrikt Poonch und bei Mirpur den Aufstand probten, die Macht in dem Fürstentum an sich reißen, um so dessen Übernahme durch Pakistan zu erzwingen.

Die „Befreier“, unter denen auch zahlreiche pakistanische Soldaten waren, drangen ab dem 22. Oktober 1947 nach Jammu und Kaschmir vor, womit der Erste Indisch-Pakistanische Krieg begann. Dabei behielten die Invasoren zunächst die Oberhand und marschierten zügig in Richtung der Hauptstadt Srinagar, während in einem Gebietsstreifen westlich davon bereits das „Freie Kaschmir“ (Azad Kashmir) proklamiert wurde und die Stammeskrieger dort zahlreiche Zivilisten aus den Reihen der Hindus oder Sikhs enthaupteten. Angesichts all dessen bat Hari Singh um indische Militärhilfe, die Neu-Delhi unter der Bedingung zusagte, daß das Fürstentum der Republik Indien beitrat. Die diesbezügliche Erklärung gab der Maharadscha am 26. Oktober ab, woraufhin am Folgetag indische Luftlandetruppen unter Oberstleutnant Dewan Ranjit Rai in das Geschehen eingriffen und zunächst die Einnahme von Srinagar verhinderten.

Anschließend tobten wechselvolle Kämpfe. So revoltierten in Gilgit im Norden Kaschmirs die Soldaten des Maharadschas und paktierten mit dem Feind. Außerdem kam es zu weiteren Massakern durch muslimische Freischärler, wie beispielsweise im November in Mirpurwo, wo zudem hinduistische Frauen entführt und in die Bordelle von Rawalpindi verschleppt wurden. 

Heute streiten zwei Atommächte um den Anspruch auf Kaschmir

Im Frühjahr 1948 startete Indien dann eine großangelegte Offensive, woraufhin im Mai schließlich auch reguläre pakistanische Armee-Verbände in den Krieg eingriffen. Die konnten aber nicht verhindern, daß die Inder bis zum November 1948 an fast allen Fronten dominierten und die Invasoren immer weiter zurückdrängten. Dabei wurde im Rahmen der Operation Easy auch Ladakh zurückerobert – was nicht zuletzt deshalb gelang, weil die indische Armee etliche leichte Panzer vom US-amerikanischen Typ M5 A1 auf dem 3.528 Meter hohen Gebirgspaß Zoji La in Stellung brachte. Andererseits erzielten die Pakistanis gleichfalls einige weitere Erfolge wie die Eroberung von Skardu in Baltistan nach einer einjährigen Belagerung der dortigen Festung, die unter dem Kommando von Oberst Sher Jung Thapa stand.

Der Krieg endete schließlich am 5. Januar 1949 nach dem Tod von rund 5.000 pakistanischen und 3.000 indischen Kämpfern mit einem Waffenstillstand, der von den Vereinten Nationen ausgehandelt worden war und die Teilung von Jammu und Kaschmir entlang der Demarkationslinie Line of Control (LoC) vorsah, an der künftig die United Nations Military Observer Group in India and Pakistan (UNMOGIP) wachen sollte. Indien erhielt rund zwei Drittel des umstrittenen Gebietes mit dem 135 mal 32 Kilometer großen Tal von Kaschmir rund um Srinagar, dem südlich davon gelegenen Jammu, dem größten Teil des stark buddhistisch geprägten Ladakh an der Nahtstelle von Himalaya und Karakorum sowie dem Hochland von Aksai Chin am Westrand Tibets. Letzteres verlor Indien dann aber 1962 infolge eines verlorenen Grenzkrieges mit China an die Volksrepublik.

Pakistan wiederum erlangte nun offiziell die Kontrolle über Gilgit-Baltistan am Dreiländereck Pakistan-Afghanistan-China sowie das zu Beginn des Krieges besetzte Azad Kashmir nördlich und südlich von Muzaffarabad, wobei es seinerseits 1963 das Shaksgam-Tal im Nordosten Baltistans an China abtrat. Ansonsten verpflichtete die Uno beide Parteien noch auf eine allgemeine Volksabstimmung über den zukünftigen Status sämtlicher Teile des ehemaligen Fürstentums, welche jedoch nie stattfand.

Indien und Pakistan führten 1965 und 1999 nach erneuten Angriffen Pakistans noch zwei weitere Kriege um den alleinigen Besitz von Jammu und Kaschmir. Diese endeten allerdings im Gegensatz zu dem ersten diesbezüglichen bewaffneten Konflikt vor 75 Jahren jeweils mit einem Waffenstillstand auf der Basis des Status quo. Dadurch blieb die Kaschmir-Frage bis heute ein wichtiger Zankapfel zwischen Indien und Pakistan, wobei beide Staaten inzwischen zu Atommächten aufgestiegen sind, was dem bilateralen Streit noch zusätzliche Brisanz verleiht.

Foto: Muslimische Freischärler beraten weiter Schläge gegen die indische Armee, Kaschmir 1948: Indien behielt die Kontrolle über wichtigen Karakorum-Paß