© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Als Franz Josef Strauß vor einem Sturmgeschütz fiel
Vor 60 Jahren begann mit der staatlichen Durchsuchung und Besetzung ihrer Redaktionsräume die „Spiegel“-Affäre / Die bundesweiten Proteste dagegen gaben bereits einen Vorgeschmack auf die Kulturrevolution von 1968
Michael Dienstbier

Wird Deutschlands Presse wieder gleichgeschaltet? Droht gar ein neuer Faschismus? In den Abendstunden des 26. Oktober 1962 beginnt die Bundesanwaltschaft mit ihren Durchsuchungen der Redaktionsräume des Spiegel in Hamburg. Der Vorwurf: Bestechung und Landesverrat. Das liberale Deutschland ist entsetzt und sieht die Pressefreiheit in Gefahr. Demonstrationen gerade in den urbanen Zentren des Landes, aber auch in Universitätsstädten wie Freiburg, Heidelberg oder Göttingen unter dem Motto „Spiegel tot – Freiheit tot“ geben einen Vorgeschmack auf die Kulturrevolution von 1968. Im Zentrum der „Spiegel-Affäre“ stehen zwei Männer, die bereits seit Jahren durch eine innige Feindschaft miteinander verbunden sind: Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein und CSU-Verteidigungsminister Franz Josef Strauß.

Auslöser der „Spiegel-Affäre“ war der Artikel „Bedingt abwehrbereit“, der in der Ausgabe vom 10. Oktober 1962 erschien. In ihrer auf nicht öffentlichen Dokumenten basierenden Auswertung des Nato-Manövers „Fallex 62“ kamen die Autoren Conrad Ahlers und Hans Schmelz zu dem Schluß, daß die Bundeswehr aufgrund ihrer mangelhaften Ausrüstung zu einer wirksamen Verteidigung im Falle eines sowjetischen Angriffs nicht in der Lage sei. Der CSU-Politiker Friedrich August Freiherr von der Heydte erstattete nur einen Tag später Anzeige wegen Landesverrats. Nachdem die Bundesanwaltschaft ein Gutachten des Verteidigungsministeriums eingeholt hatte, ergingen sieben Haftbefehle gegen Mitarbeiter des Spiegel sowie die Durchsuchungsanordnung. Die Chefredakteure Johannes Engel und Claus Jacobi wurden noch in den Redaktionsräumen festgenommen, Rudolf Augstein stellte sich am nächsten Tag der Polizei. Conrad Ahlers wurde im Urlaub in Spanien festgenommen, wie sich später herausstellen sollte erbeten durch einen persönlichen Anruf von Strauß bei einer spanischen Polizeibehörde.

Die Auflage des „Spiegel“ stieg danach von 500.000 auf 700.000

Die Redaktionsräume blieben für einen Monat von der Bundesanwaltschaft besetzt. In dieser Zeit gewährten die beiden anderen großen Hamburger Publikationen Zeit und Stern ihren Kollegen Asyl, so daß das Magazin weiterhin wöchentlich erscheinen konnte. Im nachhinein erwiesen sich diese Wochen als durchaus geschäftsfördernd für den Spiegel. Die Auflage stieg von 500.000 auf 700.000, und Rudolf Augstein, der 103 Tage in Haft blieb, erwarb sich den Ruf eines Märtyrers für die Pressefreiheit. Zudem prägte er in dieser Zeit den Begriff vom „Sturmgeschütz der Demokratie“, der bis heute mit dem Magazin verbunden wird.

Für Strauß bedeutete die Spiegel-Affäre das vorläufige Ende seiner Karriere. Er stritt zunächst ab, mit einem Anruf in Spanien – unter Umgehung des eigentlich zuständigen Justizministeriums – die Festnahme von Ahlers veranlaßt zu haben. Des weiteren hatte er vor dem Beginn der Durchsuchungen am 26. Oktober seine Staatssekretäre angewiesen, das Justizministerium, das sich in Händen der FDP befand, nicht zu informieren. 

Als dies ans Licht kam, zogen die Liberalen am 19. November aus Protest ihre Minister aus der Regierungskoalition zurück. Bei der Neubildung des Kabinetts elf Tage später wurde Strauß von Bundeskanzler Konrad Adenauer nicht mehr berücksichtigt. Dies war ein großer persönlicher Erfolg für Augstein, der sich nach einem im Streit geendeten Treffen mit Strauß in seiner Hamburger Privatvilla am 10. März 1957 das Ziel gesetzt hatte, die politische Karriere dieses Mannes, den er für völlig ungeeignet hielt, zu beenden.

Das juristische Nachspiel der „Spiegel-Affäre“ zog sich über Jahre. 1965 urteilte der Bundesgerichtshof, daß das Magazin keinen Geheimnisverrat begangen habe. Die Durchsuchungsanordnung allerdings, so das Verfassungsgericht ein Jahr später, habe nicht gegen die Pressefreiheit verstoßen. Aus heutiger Sicht fällt auf, daß die Offenlegung der militärischen Impotenz der Bundeswehr vor sechzig Jahren noch einen Skandal auslösen konnte. Heute ist diese weltweit bekannt und seit Jahrzehnten willentlich herbeigeführt durch eine politische Elite, die in der Zurschaustellung eigener Wehrlosigkeit einen Beitrag zur globalen Friedenssicherung erkennen will.