© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Der Flaneur
Ich bin TikTok
Paul Meilitz

Auf dem Spielplatz: Meine Tochter hat ihren knapp vier Jahre alten Sohnemann zu ein paar Freiluftaktivitäten überredet, und ich versuche mich als Begleit-Opa nützlich zu machen. Plötzlich wird das gewöhnlich routinierte Abarbeiten aller Spielgeräte gestört. Eine andere Mama hat mit ihrer Tochter eine zweite Bank belegt. Die etwa Sechsjährige legt sich keine lange Zurückhaltung auf und rückt meinem Enkel energisch näher. Zunächst ist das Verhalten beider Kinder im grünen Bereich. Meine Stirn runzelt sich erst, als das Mädchen ihre Annäherungsversuche hartnäckig forciert, obwohl dem Enkel das Unbehagen aus dem Gesicht springt. Das mag in zehn Jahren ganz anders aussehen, aber nicht hier und nicht heute.

Die junge Dame greift nochmal an: „Ich habe schon drei Likes. Du zero!“

Schließlich gelingt es ihm an der Wippe, zu deren Inbetriebnahme bekanntlich mindestens zwei Teilnehmer gehören, die rabiate Verehrerin abzuschütteln. Ganz gibt sich die junge Dame allerdings nicht geschlagen und greift zu einem letzten Mittel. „Hör mal“, vernehmen wir lautstark, „Ich bin TikTok und habe schon drei Likes. Du zero!“ 

Damit sind die Fronten geklärt, denn sie hätte mit Enkelchen ebenso gut isländisch reden können. Der verdreht nur dezent die Augen, behält sein Schweigen bei und orientiert sich kurz bei Mutter und Opa, ob auch bei denen noch alles im Lot ist. 

Das ist es, denn wir haben uns zunächst über die gescheiterte Kontaktaufnahme mehr amüsiert als geärgert. Erst als das Mädchen den Mund öffnete, um sich als chinesische Internetplattform vorzustellen, war uns das Schmunzeln vergangen. Wie soll ich es hier möglichst rücksichtsvoll beschreiben? Die Zähne der kleinen Dame bedurften einer dringenden Pflege. Das lenkte unseren Blick in Richtung Mutter. 

Die ließ seit ihrem Erscheinen auf dem Spielplatz kaum Anteilnahme an den Aktivitäten des Nachwuchses erkennen. Klebte ihr doch ohne Unterbrechung eine gefühlte Viertelstunde ein Smartphone am Ohr. 

Das mobile Endgerät neuester Bauart dürfte auch TikTok, den „Namensgeber“ ihrer Tochter, beherbergen. Die Freude am Spielplatzausflug trübte ein, denn das unbekannte Mädchen tat mir jetzt gleich doppelt leid.