© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Machiavelli würde staunen
Eurokrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise – seit über zehn Jahren befindet sich Deutschland im Ausnahmezustand. Wieso sich die Herrschenden im Westen mit der Situation angefreundet haben, erklärt Fritz Söllner in seinem neuen Buch „Krise als Mittel zur Macht“
Michael Dienstbier

Wir haben uns daran gewöhnt, die Krise als Dauerzustand zu begreifen. Seit 15 Jahren scheint unsere politische Klasse ausschließlich damit beschäftigt, auf Krisen zu reagieren, angeblich um den Untergang wahlweise des Landes, Europas oder gleich der ganzen Welt zu verhindern. Als Beginn dieser Entwicklung gilt das Jahr 2007, in dem die globale Finanzkrise ihren Ausgang nahm und im September 2008 mit der Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers ihren ersten Höhepunkt fand, um sich in Europa ab 2009 zur Griechenland- bzw. Eurokrise weiterzuentwickeln. 

Es folgten in immer kürzer werdenden Abständen die Flüchtlings-, die Klima-, die Corona- und aktuell die Geldentwertungskrise. Der an der TU Ilmenau lehrende Ökonom Fritz Söllner hat sich in seiner neuen Darstellung „Krise als Mittel zur Macht“ das Ziel gesetzt, Unterschiede und vor allem Gemeinsamkeiten dieser diversen Krisenszenarien mit ihren entsprechenden Bewältigungsstrategien zu untersuchen. Herausgekommen ist ein kurzweilig zu lesendes Buch, welches in der deskriptiv angelegten ersten Hälfte den Verlauf der jeweiligen Krise rekapituliert. Eingeleitet wird es mit einem Vorwort von Thilo Sarrazin. Im zweiten Abschnitt leistet der Autor eine bisher in der Form nicht vorliegende tiefgehende Analyse des Krisenzeitalters, wobei er vor allem den Interessen und Motiven der verschiedenen Akteure eine entscheidende Rolle beimißt.

Söllner stellt die These auf, daß die verschiedenen Krisenszenarien bewußt genutzt wurden und werden, um das lange angestrebte Ziel eines europäischen Zentralstaates zu realisieren. Dieser solle dergestalt organisiert sein, daß „die ehemaligen Mitgliedstaaten der EU zu bloßen Verwaltungseinheiten und ausführenden Organen der Zentrale in Brüssel degradiert werden“. Dieser Schluß ergibt sich für Söllner beim Blick auf die Krisenbewältigungspolitik der vergangenen 15 Jahre. Diese weise bei geringen Unterschieden bemerkenswerte strukturelle Parallelen auf: mehr Zentralisierung, mehr Dirigismus sowie eine zunehmende Marginalisierung nationaler Gerichtsbarkeit zugunsten des supranationalen Maßnahmenregimes. Besonders deutlich wird dies beim Blick auf die Finanz-, Corona- und Klimakrise, bei deren angeblich alternativlosen Lösungsansätzen die Nationalstaaten samt ihren Institutionen als Wurzel allen Übels angesehen werden und der einzige Weg zum Heil fern jedweder Evidenz in der mantraartig wiederholten Formel „mehr Europa“ zum Ausdruck gebracht wird. 

Konkret manifestiert sich dieses Mantra etwa in dem gigantischen 750-Milliarden-Rettungspaket der EU zur Überwindung der Corona-Pandemie, von denen 300 Milliarden als Zuschüsse an Italien und Spanien fließen sollen. Daß mit diesem Paket zum wiederholten Male gegen sämtliche Regeln des Maastricht-Vertrages verstoßen wird, ohne daß ein Gericht ein Stoppzeichen setzt, ist mittlerweile nicht einmal mehr eine Meldung wert. Diese Agenda werde von den EU-Eliten ganz offen formuliert, wie Söllner dem Leser anhand einiger ausgewählter Zitate noch einmal ins Gedächtnis ruft. So begrüßte Wolfgang Schäuble die Coronakrise ganz offen als Möglichkeit zur Realisierung eines lange gehegten politischen Projektes: „Die Coronakrise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderungen wird in der Krise geringer. Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben, jetzt hinbekommen.“ Angesichts dieser verblüffenden Ehrlichkeit muß man wohl eher diejenigen als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, die weiterhin behaupten, einen Plan zur Errichtung eines europäischen Zentralstaates gebe es nicht.

Am Ende seines Buches widmet sich Söllner der Frage, welche Ideologie die Zentralisierungsagenda vorantreibt. Er bezeichnet diese als universalistische Gleichheitsideologie, die den gesamten Westen befallen habe und den Weg in den Neo-Sozialismus vorantreibe. Krisenpolitik und Ideologie stünden dabei in einem sich gegenseitig verstärkenden dialektischen Verhältnis: „Die Gleichheitspolitik bewirkt die Krisenpolitik, welche ihrerseits diese Ideologie befördert.“ So gab es in der Flüchtlingspolitik nur noch eine abstrakte Menschheit und keine konkreten Völker mehr, die das Recht haben, selbst zu entscheiden, mit wem sie zusammenleben möchten und mit wem nicht. Auch in der Coronapolitik waren (und sind) alle Bürger der Willkür des Maßnahmenstaats schutzlos ausgeliefert, egal ob jung oder alt, ob Risikogruppe oder nicht. Kein Land, so der Autor, habe sich dieser Gleichheitsideologie bedingungsloser verschrieben als Deutschland, kein Land gehe härter gegen Kritiker dieser Entwicklung vor. Grund hierfür sei das anhaltende Leiden an unserer nationalstaatlichen Identität, von der sich viele durch eine Flucht in ein globalistisches Verwaltungskonglomerat à la EU zu entledigen suchen. Hier sei lediglich angemerkt, daß sich diese typisch deutsche Schuldtranszendenz mittlerweile zu einem Exportschlager entwickelt hat, die sogar in einer dem Selbsthaß eher abgeneigten Nation wie den USA immer mehr Fuß faßt.

Das Buch überzeugt durch eine gelungene Mischung aus deskriptiven und analytischen Anteilen. Wohl kein Leser, der sich nicht hauptberuflich mit der Materie beschäftigt, wird den genauen Ablauf der fünf behandelten Krisen vor Augen haben, so daß der erste Abschnitt mit rund 110 Seiten richtig bemessen ist und die Thesenbildung des analytischen Teils fundiert vorbereitet. Ob die aktuelle Inflationskrise, wie Söllner behauptet, den endgültigen Abschluß der Vereinheitlichungsagenda markiert, wird die nähere Zukunft zeigen.

Fritz Söllner: Krise als Mittel zur Macht. Verlag Langen Müller, München 2022, gebunden, 320 Seiten, 24 Euro