© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Das Leben als Sechs-Tage-Rennen
Alles sollte von Grund auf anders werden: Harald Jähner zeichnet die pulsierenden zwanziger Jahre nach und bedient alle Klischees dieser „goldenen Zeit“
Eberhard Straub

Bücher über die zwanziger Jahre im republikanisch verfaßten Deutschen Reich werden unweigerlich melodramatisch, weil sie es unvermeidlich mit dem Zerfall der Republik und dem Übergang in die von der NSDAP 1933 organisierte Volksgemeinschaft unter der Führung Adolf Hitlers zu tun haben. Harald Jähners Buch „Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen“ hört 1933 auf, weil das Leben unter dem Nationalsozialismus offenbar gar kein Leben mehr sein konnte. Er isoliert die vierzehn Jahre der Weimarer Republik aus ihrem großen epochalen Zusammenhang von 1900 bis 1960. 

Daß „die Demokratie“ im Deutschen Reich scheiterte, ist gar nicht ungemein überraschend. Europa war aus dem Gleichgewicht während des „Großen Krieges“ geraten, und die Sieger waren unfähig, eine neue Ordnung und damit Frieden zu schaffen. Überall in Europa suchten in der unübersichtlichen Situation Staaten und Völker auf je eigenen Wegen nach ihrer Sicherheit, die ihnen „der Westen“ als siegreiche Wertegemeinschaft nicht zu verschaffen vermochte. Ungarn, Italien, Portugal, Spanien, Polen, Jugoslawien und weitere Staaten, von der Sowjetunion gar nicht zu reden, vermuteten im Führerprinzip einer alle Gruppen vereinigenden „Volkspartei“ das Modell für eine schönere Zukunft. Daß sich das wenig verständnisvoll behandelte Deutsche Reich dieser europäischen Bewegung anschloß, war also nicht weiter verwunderlich. 

Allerdings streift Harald Jähner nur gelegentlich die lästigen und belästigenden politischen Verwicklungen, die das süße Leben von Anfang an scharf würzten und aufregend machten. Ihn interessieren Gefühle, Stimmungen und die prallen Sensationen bei dem großen Abenteuer der jeweiligen Selbstverwirklichung und der Emanzipation von allen möglichen Konventionen in der Erotik, beim Tanz, Essen, Trinken und Wohnen, während des Sports und in der Freizeit. Neue Moden, neue Lebensformen und sogar neue seelische Entwürfe als Experimente beachtet er liebevoll, weil doch vor allem Berlin, so bunt, so ausgelassen, keine Tabus und Pardons kannte und jeden aufforderte, sich mutig in den alle Sinne berauschenden Taumel zu stürzen und unverkrampft aus sich und vor allem aus seinem Körper etwas zu machen. Harald Jähner ist ein Frauenversteher und bewundert die Innovationkraft der Lesben, den Sportgeist der verwegenen Automobilistinnen, die sich auf große Expeditionen einlassen, die Energie und Durchsetzungskraft der neuen Frau, die unter dem Druck der stets beweglichen Aktualität zum Augenblick nicht sagen darf: Verweile doch, du bist so schön. „Der Zeitpuls fliegt“, so nannte Walter Mehring 1958 eine Sammlung seiner Gedichte und Artikel aus jenen Jahren. Der immer atemlose Berliner, ob männlich oder weiblich, lebt mit der Uhr in der Hand: „Man knutscht, man küßt, man boxt, man ringt, een Pneu zerplatzt, die Taxe springt! /Mit eenmal kracht das Mieder.“ Das ist Berlin, Heimat Berlin, mit seinem Tempo: „Keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit ...“    

Die immer aktiven Frauen waren keine Quotenfrauen. Sie strengten ihre Phantasie und ihren Willen an, wegen auffälliger Leistungen beachtet zu werden, die Sentimentalitäten der Liebe möglichst zu meiden und Männer oder Frauen hinter sich zu lassen, die sie daran hinderten, ganz authentisch zu sein und zu bleiben. „Charakter ist nur Eigensinn, es lebe die Zigeunerin“, die in jeder Frau schlummert und erweckt werden muß. Allerdings traten solche Frauen schon vor dem Krieg auf, entschlossen das Fest des Lebens nicht zu versäumen, dem „Ruf des Lebens“ zu folgen und über dem „Lebensglauben“ mit seinen „Lebensgluten“ das Leben zu heiligen, den Körper zu verschönern und ihn anderen als mögliches Erlebnis, das Kraft und Freude wechselseitig steigert, anzubieten. Schön ist nur das Gesunde. Deshalb wurden schon vor dem Krieg das gesunde Leben und die geistige wie seelische Gesundheit – nicht rauchen, nicht trinken, vegetarisch essen, stets im Einklang mit der Natur zu bleiben – als Voraussetzung dafür ausgegeben, den alten Menschen abzustreifen und ein neuer Mensch zu werden, für alles offen, weil immer neugierig, um als neuer Mann und neue Frau eine neue Liebe zu entdecken und im neuen Wohnen und in neuen Gewändern sich ununterbrochen und beglückt, die Neuwertigkeit ihres unerschöpflichen Daseins zu bestätigten. Die Lebenslust während der zwanziger Jahre hatte sich längst vorbereitet, und sie setzte sich in anderen Formen danach fort. Es waren schließlich die gleichen Menschen, die von der untergehenden Republik in den nationalen Aufbruch hineintanzten. 

Berlin rückt Harald Jähner in den Mittelpunkt, obschon in München, Leipzig, Königsberg oder Wien aus dem Zusammenbruch der herkömmlichen Welt zuweilen andere Konsequenzen gezogen wurden, die Berlinern weitgehend fremd und gleichgültig blieben, also auch diesem Berliner Geschichtenerzähler: theologische, philosophische, kulturkritische, die sich alle auch mit der Politik verbanden. Doch Kulturgeschichte und Politik in weiten Zusammenhängen langweilten die auf Knalleffekte lauernden Berliner. Außerdem war Berlin der Inbegriff der neuen Massengesellschaft mit ihrer geschmacklichen Homogenisierung im Unterschied zu den anderen Metropolen, wo man ahnte, welcher Preis der Übergang in die allerneueste Neuzeit kosten würde. Harald Jähner schwärmt für die Massen, die sich in Amüsierpalästen tummeln, beim Sechs-Tage-Rennen und anderen Sportveranstaltungen, ihm gefällt an Berlin, was andere kräftig störte: die vorlaute Stillosigkeit, der Mangel an Exklusivität, der Lärm und der Radau, kurzum die Vulgarität der Großstadt. Wem es schwerfiel, sich daran zu gewöhnen, den schilt er einen Kulturpessimisten oder Kulturkritiker, die griesgrämig den kleinen Leuten ihre Daseinsfreude verderben wollen, die jetzt als Masse von Angestellten nicht hinten im Chor, sondern als Protagonist in Staat und Gesellschaft als Massenspektakel wahrgenommen und geachtet werden wollen. 

Er romantisiert die Stenotypistin, den Jüngling an der Portokasse, das Fräulein vom Amt, die Sekretärin, den Verkäufer, den Gigolo, die es schwer genug hatten, über die Runden zu kommen. Süchtig nach Vergnügen und immer neuen Abwechslungen waren die Wendigen und Schlauen: „Der eine macht’s mit Fraun / der andre macht’s mit Klaun / Mit’m Linkseffet Mit’m Rechtseffet. Es hat so jeder sein Dreh / das Wie ist stets ejal“. In diesen Leuten sah Walter Mehring die wahren Repräsentanten der Massengesellschaft. Sie konnten sich mühelos in den neuen Staat und in die Verantwortungsgemeinschaft der neuen Deutschen mit ihrer „Volkspartei“, die Massen organisierte unter der Führung eines „Volkskanzlers“, nach 1933 eingewöhnen. Aber solchen Überlegungen weicht der massenselige Berliner Frohwalt Jähner aus. „Freut euch des Lebens“ und laßt euch nicht den auch heute wieder möglichen Höhenrausch in der Verschmelzung vieler zur lebensvollen Einheit vermiesen. Das ist die Botschaft seines Buches. Sie wird als frohe Botschaft hier und heute stürmisch begrüßt werden.

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen. Rowohlt Verlag, Berlin 2022, gebunden, 556 Seiten, 28 Euro