© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Abgründe tun sich auf
Volker Ullrich referiert allerlei Sekundärliteratur über das deutsche Krisenjahr 1923. Neue Aspekte vermag seine Pflichtübung hundert Jahre später nicht zu präsentieren
Oliver Busch

Was die Leser seines Buches über „Deutschland 1923“, das schlimmste der schlimmen frühen Krisenjahre der Weimarer Republik erwartet, verrät ihnen Volker Ullrich schon im Vorwort mit verblüffender Offenheit: nichts Neues! Zwar habe er ursprünglich Besseres leisten wollen, aber dafür wären umfangreiche Archivrecherchen nötig gewesen, die die Corona-Pandemie leider verhinderte. Da auch die Staats- und Universitätsbibliotheken unzugänglich gewesen wären, so entschuldigt sich der im Ruhestand lebende langjährige Ressortleiter „Politisches Buch“ des Wochenblattes Die Zeit, habe er „wichtige Bände“ zudem nur aus einer umfangreichen Privatbibliothek entleihen können und sich sonstige Literatur über die Dokumentationsstelle der Zeit beschaffen müssen.    

Mit anderen Worten, Ullrich, Jahrgang 1943, sozialisiert im Hamburger, auf „Selbstverdunkelung der deutschen Geschichte“ (Gerhard Ritter) spezialisierten Seminar Fritz Fischers, war zu faul, um anhand neuer Quellen neue Einsichten in die Anfangsphase der ersten deutschen Demokratie zu erschließen. Denn 2020/21 gab es für Benutzer von Bibliotheken und Archiven zwar schmerzliche Einschränkungen, aber nur zeitweilige Aussperrungen. Gründliches wissenschaftliches Arbeiten blieb daher möglich, wenn es auch nicht in gewohntem Tempo voranging. Da jedoch ein historiographisches Werk zu 1923 verlegerischer Programmplanung gehorchen und rechtzeitig im Herbst 2022 erscheinen mußte, zog Ullrich es vor, lieber aus der üppigen Sekundär- ein Stück Tertiärliteratur zu fabrizieren statt sich ins aufwendige Aktenstudium zu stürzen.

Folglich ist der Autor gezwungen, den aus zweiter Hand gelieferten Stoff reflexionslos nachzuerzählen. Er beginnt mit dem Paukenschlag vom 11. Januar 1923, als französische und belgische Truppen in einer „militärischen Spezialoperation“ (Wladimir Putin) das Ruhrgebiet besetzten, um die dem Kriegsverlierer Deutschland in Versailles 1919 auferlegten Reparationsforderungen einzutreiben. Die Reichsregierung reagierte darauf mit der Ausrufung des passiven Widerstands, den sie mit der Notenpresse finanzierte. Als Folge dieser Desperado-Politik entwickelte sich die kriegsbedingt ohnehin schon hohe Inflation bis zum Sommer 1923 zur Hyperinflation. Dergestalt wie sie im kollektiven Gedächtnis noch heute präsent ist mit ihren Bildern von Lohnempfängern, denen fast wertlose Papierscheine kiloweise ausgezahlt wurden. 

Am 13. August 1923, als ein Dollar 3,7 Millionen, ein Pfund Rindfleisch eine Million Mark kostete, übernahm Gustav Stresemann anstelle des mit seinem Ruhrkampf-Kurs gescheiterten Hapag-Managers Wilhelm Cuno die Kanzlerschaft. In Ullrichs Darstellung figuriert dieser nationalliberale Wirtschaftspolitiker als eigentlicher „Held“ des „deutschen Herbsts“ 1923. Stresemann liquidierte den aussichtslosen Ruhrkonflikt, beugte dem Zerfall der Reichseinheit vor, der durch SPD/KPD-Einheitsregierungen in Sachsen und Thüringen drohte, überstand souverän zwei Putschversuche, den kommunistischen in Hamburg und den nationalsozialistischen in München, sowie hochverräterische separatistische Unternehmungen im Rheinland und in der Pfalz. Vor allem aber bereitete Stresemann das „Wunder der Rentenmark“ vor. Am 15. November 1923 stand der Dollarkurs bei 2,52 Billionen Mark. Am selben Tag wurde die neue Währung, die Rentenmark eingeführt, deren Ausgabe die Deutschen noch vor Weihnachten vom Alptraum der Hyperinflation befreite.

Nichts, was Ullrich über diese dramatischen Ereignisse referiert, kommt über unzählige Monographien hinaus, die zur Geschichte der Weimarer Republik greifbar sind. Bevorzugt orientiert er sich dabei am sozialdemokratischen „Westwanderer“ Heinrich August Winkler, dem altgedienten Haushistoriker der Zeit-Redaktion, dessen Epos „Weimar 1918–1933“ (1993) bis heute vom muffig-moralinsauren Geschichtsbild der alten Bundesrepublik kündet. Nur im Kapitel über den dilettantischen NS-Putsch vom 9. November 1923 kolportiert Ullrich ausnahmsweise einmal nicht andere, sondern sich selbst, indem er hier die Bürgerbräu-Schnurre  aus seiner Hitler-Biographie (2018) einfügt. Das einzige Kapitel hingegen, das sich nicht der politischen, sondern der Kulturgeschichte Weimars widmet, schwelgt wieder in jenen westdeutschen Klischees, deren Gefangener Ullrich seit seiner Studienzeit ist. 

Der „kulturelle Aufbruch“ nach der Novemberrevolution war demnach eine exklusiv linke Veranstaltung, dominiert von Dramatikern wie Ernst Toller und Bert Brecht, von Dada, dem kommunistischen Malik-Verlag und von „Ängste der Epoche“ bündelnden expressionistischen Horrorfilmen wie „Nosferatu – eine Symphonie des Grauens“ (1922). Allenfalls ein Seitenblick fällt auf die ersten „Fridericus Rex“-Streifen, die Ullrich flott als „Historienschinken“ abhakt. Während für ihn natürlich Charlie Chaplins rührseliges Melodram „The Kid“ (1923) den Gipfel der Stummfilmkunst erklommen hat. So unterschiedliche zeitgenössische Kritiker wie der deutsch-jüdische Romanist Victor Klemperer („amerikanische Gefühlprimitivität mit amerikanischer Vorliebe für Clownerie“) und der Staatsrechtler Carl Schmitt („Dreck, jüdische Sentimentalität“) werden daher barsch abgefertigt. Wobei er selbstredend nur Schmitt einen „tiefsitzenden Antisemitismus“ zu attestieren wagt, den Ullrich in üblicher Manier nicht anhand einer Primärquelle, den veröffentlichten Tagebüchern Schmitts, belegt, sondern „zitiert nach“ einer Biographie des vermeintlichen „Kronjuristen Hitlers“.   

Der Autor ordnet sein Werk eingangs einem seit Ende der 1990er sich verstärkenden Forschungstrend ein, die Weimarer Republik nicht primär von ihrem Ende her zu betrachten und danach zu fragen, warum sie 1933 unterging, sondern von ihrem Anfang aus, um ihre „zukunftsfähigen Elemente“ zu erfassen. Gerade unter diese Perspektive gestellt, sei 1923 ein „Schlüsseljahr“. Es wäre also zu erwarten gewesen, daß Ullrich jene Elemente analysiert, denen es die erste deutsche Demokratie verdankte, daß sie 1923 ihre „größte Bewährungsprobe“ bestand. Doch dieser prominente Vertreter des geschichtspolitisch engagierten Haltungsjournalismus schweigt sich darüber aus. Es sei eben „fast wie ein Wunder“ gewesen, daß die Republik eine solche „existentielle Gefährdung“ überlebte. Tatsächlich war es der über alle Parteigrenzen hinweg reichende, von Gustav Stresemann prototypisch verkörperte Wille zur Selbstbehauptung, der den demokratischen Nationalstaat rettete. Eine „Lehre aus der Geschichte“, die der wundergläubige Volker Ullrich hundert Jahre später einer politischen Klasse nicht mehr zumuten möchte, die „Vaterlandsliebe stets zum Kotzen“ (Robert Habeck) gefunden und wie besessen die Auflösung Deutschlands vorangetrieben hat. Einer Nation, der darum nun abermals ein „Jahr am Abgrund“ droht, allerdings ohne eine Figur wie Stresemann in Aussicht zu haben. 

Volker Ullrich: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, Verlag C. H. Beck, München 2022, 441 Seiten, Abbildungen, 28 Euro