© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Wenn Nachbarn zum Morden kommen
Der US-Historiker Jeffrey Veidlinger klärt über antisemitische Pogrome Anfang der zwanziger Jahre in den „Bloodlands“ Osteuropas auf
Matthias Bäkermann

Vor über elf Jahren warf der US-Historiker Timothy Snyder (Yale) mit dem Werk „Blood-lands“ den Fokus auf den osteuropäischen „Gewaltraum“ zwischen Finnischem Meerbusen und Schwarzmeerküste. Snyder stellte darin den Massenterror, die Deportationen und Mordexzesse im Baltikum, Weißrußland, Polen und der Ukraine dar, die nicht allein auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs beschränkt waren. Auf diesen Pfaden wandelnd, hat sein Historikerkollege Jeffrey Veidlinger, Professor an der University of Michigan und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Zentrums für Jüdische Geschichte in New York, dieses Themenfeld für sein Fachgebiet konkretisiert, der Erforschung der jüdischen Kultur und Geschichte „im Schatten der Schtetl“, wie ein Werk von 2015 über jüdisches Leben in der Sowjetukraine betitelt ist. Dabei beleuchtet er, auf umfangreiche Archivforschung in den USA und der Ukraine gestützt, die antijüdischen Pogrome nach Ende des Ersten Weltkriegs in den zaristischen Westprovinzen Wol-hynien und Podolien bis hin zu den Städten Kiew, Tscherkassy und Cherson am Dnepr.

So ist es geradezu nachvollziehbar, daß der Verlag das Urteil Snyders, daß „an Veidlingers außergewöhnlicher Darstellung dieser jüdischen Katastrophe keiner herankommt“, als Referenz angibt. Warum aber aus dem soziologisch gemeinten „Inmitten“ des Originaltitels von 2021 (In the Midst of Civilized Europe) plötzlich die geographisch zu verstehende Übersetzung „Mitten im zivilisierten Eu-ropa“ geworden ist, da kann in Zeiten des Ukraine-Krieges 2022 nur ein Schelm etwas Böses denken.

Bereits am 13. November 1918, zwei Tage nach dem Waffenstillstand von Compiègne, annullierte die sowjetrussische Regierung den Brest-Litowsker Friedensvertrag. Die deutschen Truppen zogen sich bis Ende 1918 rasch aus den von ihnen bis zum Don und der Krim besetzten Weiten zurück. In dieses Machtvakuum stießen schnell nationalistische Staatsgründungs- bzw. Staatsausdehnungsprojekte, politisch-soziale Aufstandsbewegungen oder die Frontlinien des Russischen Bürgerkrieges. Bis 1921 blieb diese Region großteils Kriegsgebiet. Und auf eben diese unübersichtliche, in der westlichen Historiographie weitgehend unberücksichtigte Gemengelage richtet Veidlinger sein Augenmerk.

Im Eingangskapitel rekapituliert er die Geschichte antijüdischer Gewalt, die bereits zu Zarenzeiten regelmäßig zu Pogromen führte und jüdische Auswanderungswellen immer wieder anheizte. Die nachfolgende detaillierte Beschreibung einzelner Pogrome in Kleinstädten wie Ovrutsch oder Pros­kuriv (heute Chmelnyzkyj) im Frühjahr 1919 unter Regie der ukrainischen Armee von Symon Petljura, dem heute in Kiew Denkmäler gewidmet sind, gibt einen Einblick, wie leicht das fragile Gesellschaftsgefüge zwischen Juden und der meist bäuerlichen Bevölkerung zerbrach und sich in mörderischen Übergriffen des Mobs entlud. Die nationalistischen, bolschewistischen und wiederum antibolschewistischen Affekte schaukelten sich dabei zunehmend auf und forderten insgesamt über 100.000 Opfer. Nach 1941 war es Veidlinger zufolge dann für die Nationalsozialisten in der Ukraine ein leichtes, diese lokalen Erinnerungen für ihren Holocaust zu mobilisieren und zu nutzen.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa. Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust. Verlag C. H. Beck, München 2022, gebunden, 456 Seiten, 34 Euro