© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Frisch gepreßt

Ostgebiete. Als die Autorin Karolina Ku-szyk 1977 in Liegnitz geboren wurde, lebten viele der früheren deutschen Bewohner noch. Allerdings war deren alte Heimat, meist hinter dem Eisernen Vorhang und noch jenseits der DDR-Ostgrenze, weiter entfernt als der Mond – gefühlt wenigstens. Und sollte damals doch jemand als „Heimwehtourist“ in die vormals deutschen Provinzen gereist sein, war der Kontakt zu neuen Bewohnern nicht selten von Argwohn, mindestens von Beklommenheit geprägt. Zudem wurde von offizieller polnischer Seite noch bis in die neunziger Jahre streng darauf geachtet, daß nur polnische Namen verwendet wurden. Kein Zweifel sollte aufkommen, daß alles Deutsche hier, in den „wiedergewonnenen Gebieten“, früher allenfalls kurzzeitig das Regiment führte. In Städten wie Breslau gab es Ende der vierziger Jahre sogar staatlich organisierte Wettbewerbe, um deutschsprachige Hinweise zu melden, die anschließend getilgt wurden; deutsche Friedhöfe wurden eingeebnet. Dennoch stieß jeder, der nicht wegsah, überall auf Spuren der alten Bewohner: verwitterte Inschriften, Möbel, Bücher oder sogar das Geschirr in den Schränken. So war es auch bei Kuszyk, deren Generation heute unbefangen das während der Nachkriegsjahrzehnte tabugeladene Erbe der vertriebenen Deutschen im heutigen Westpolen wahr- und aufnimmt. Sie beschreibt in ihrem kurzweiligen Buch in persönlicher und bildhafter Art, wie ihr Umfeld sich im Laufe der Jahrzehnte damit auseinanderzusetzen gelernt hat. „Wiedergewinnen beweist man nicht in Verwischen von Spuren, sondern durch Fürsorge für diese“, resümiert sie. Vielleicht ist das Portal an der Kathedrale St. Peter und Paul in Kusziks Heimatstadt Liegnitz ein gelungenes Beispiel dafür, wie diese pragmatische Auseinandersetzung mit dem deutschen Erbe gelingen kann. Als die Polen das Gotteshaus nach 1945 in Besitz nahmen und es somit katholisch wurde, beseitigte man die Luther-Statue im Hauptportal und ersetzte sie durch die Gottesmutter Maria. Den Schriftzug auf beiden Seiten „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“ blieb jedoch stehen und hat fernab seines Ursprung aus dem Munde des Reformators 1521 in Worms plötzlich seine ganz eigene Deutung erhalten. (bä)


Karolina Kuszyk: In den Häusern der anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen. Ch. Links Verlag, Berlin 2022, gebunden, 400 Seiten, 25 Euro