© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Die ewige Typologie des Führens
Der Bonner Althistoriker Wolfgang Will hat eine bemerkenswerte Biographie über den antiken griechischen Heerführer Xenophon auf seiner Odyssee zu Land vorgelegt
Karlheinz Weißmann

Xenophons „Zug der Zehntausend“ kann auf ganz verschiedene Weisen gelesen werden: als „das erste erhaltene Memoirenwerk der abendländischen Geschichte“, wie es einleitend in dem Buch Wolfgang Wills heißt, als Bericht über den abenteuerlichen Marsch griechischer Söldner durch das feindliche Achämenidenreich und ihre Heimkehr, als Darstellung eines Aspekts antiker Militärgeschichte, als Reihe unsystematischer Bemerkungen zur Herrschaftssoziologie, als „eine Art Odyssee zu Land“, eine Erzählung über fremde Länder, fremde Menschen, fremde Kulturen, die für einen Hellenen zu den „Barbaren“ zählten. 

Als Hellene hat Xenophon sich selbst verstanden, obwohl die mit dem Begriff signalisierte Gemeinsamkeit der Griechischsprechenden zum Ende des 5. Jahrhunderts vor Christus eher eine Fiktion war, verknüpft mit der Erinnerung an den Kampf der Poleis gegen die Perser, aber längst überholt durch die brutalen Auseinandersetzungen zwischen ihnen in der Folgezeit. Der folgenreichste dieser Konflikte war der Peloponnesische Krieg, den Sparta und Athen gegeneinander führten. Xenophon stammte aus Athen, und er mußte nicht nur dessen Niederlage erleben, sondern auch die dramatischen Umwälzungen, von denen der Stadtstaat während und nach dem Konflikt erschüttert wurde. In seinem Buch über den „Zug der 10.000“ zeichnet der Althistoriker Will diesen  Hintergrund der Biographie kenntnisreich nach und vermittelt dem Leser auch, wie zerrissen Xenophon war: ein junger Mann aus adeligem Haus, zwischen 430 und 425 vor Christus geboren, der von der demokratischen Verfassung Athens wenig hielt und die Einsetzung einer Oligarchie – die Herrschaft der dreißig Tyrannen – durch das siegreiche Sparta anfangs begrüßte, um dann doch zu erkennen, daß seine Ideale hier keineswegs verwirklicht wurden, sondern eine politische Fehlform eine andere ersetzt hatte.

Will deutet den Entschluß Xenophons, sich angesichts der verfahrenen Lage einer Söldnertruppe anzuschließen, die den persischen Prinzen Kyros gegen seinen älteren Bruder Artaxerxes auf den Thron bringen sollte, aber auch als Hinweis auf jugendliche Abenteuerlust und ein nicht unerhebliches Maß an Selbstüberschätzung. Denn Xenophon nahm ohne echte Erfahrung anfangs als ziviler Beobachter am Vormarsch teil. Er bezog außerdem eine privilegierte Stellung, verglichen mit der der Krieger, die ihren Beruf selten freiwillig, häufig aus Not ergriffen hatten, um Elend, Arbeitslosigkeit oder drohender Versklavung zu entkommen. In erster Linie handelte es sich um schwerbewaffnete Hopliten, aber eben nicht um die Bürgersoldaten der Vergangenheit, sondern um antike Landsknechte. Dementsprechend sah es mit ihrer Moral aus. Sie kämpften für Geld, und wenn das Geld ausblieb, kämpften sie nicht. Sie wählten sich ihre Anführer selbst, und konnten sie im unpassendsten Augenblick wieder absetzen. Sie hielten nur dann Disziplin, wenn es im Angesicht des Feindes unumgänglich war, und Kameradschaft nur, wenn es nicht günstiger schien, allein auf den eigenen Vorteil zu achten.

Die daraus resultierenden Probleme für das Gelingen des Feldzugs wurden beim Vormarsch dadurch verdeckt, daß die Söldner auf keinen ebenbürtigen Gegner trafen. Das änderte sich im Grunde erst, als es 401 vor Christus zur Entscheidungsschlacht bei Kunaxa kam, in der die Griechen zwar triumphierten, aber durch den Tod des Kyros ihren Anführer und Finanzier verloren. Dem ersten folgt ein zweiter Enthauptungsschlag, denn ihre eigenen Kommandeure gingen – ebenso arrogant wie naiv – dem Artaxerxes in die Falle. Woraufhin sich das Heer der Söldner rasch in einen anarchischen und von Furcht erfüllten Haufen verwandelte, der nur mit Mühe wieder unter Kontrolle zu bringen war. Bemerkenswert erscheint in dem Zusammenhang weniger Xenophons zu eigenen Gunsten stilisierte Schilderung der Abläufe, eher seine psychologische Betrachtung und sein Ansatz einer Typologie des Führens: durch offene Gewalt, durch Schmeichelei oder durch Autorität.

Wenn Xenophon von den Söldnern schließlich selbst zum Feldherrn gewählt wurde und sich in dieser Stellung halten konnte, dann weil er auf die Wirksamkeit des dritten Konzepts setzte: Unangefochten blieb seine Position trotzdem nicht, phasenweise zerfiel sogar die Einheit der Truppe, deren Fraktionen sich entlang der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Heimatstädten bildeten. Aber letztlich gelang es Xenophon doch, die 10.000 oder das, was von ihnen übrig war, durch das Perserreich und die Anrainerstaaten bis zum Schwarzen Meer mit seinen griechischen Siedlungen und dann in die Heimat zurückzuführen.

Nach Athen kam Xenophon allerdings nicht. Persien galt nach wie vor als Feind, seine Sympathie für das Regime der Kollaborateure Spartas war nicht vergessen. Dorthin ging er ins Exil und widmete sein späteres Leben der Schriftstellerei. Sein „Zug der 10.000“ wurde in der Antike ein vielgelesenes Buch, diente dem Angriff Alexanders auf Persien als praktischer Wegweiser und Cäsar für seinen „Gallischen Krieg“ als Muster und später noch den Griechischschülern als Anfangslektüre.

Wolfgang Will: Der Zug der 10.000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres. Verlag C. H. Beck, München 2022, gebunden, 314 Seiten, 28 Euro