© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Frisch gepreßt

Osteuropa. Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges nutzen Verlage die Gunst der Stunde und werfen mit fliegender Hast Bücher auf den Markt, die den Blick nach Osten richten. Beim Suhrkamp-Sammelband „Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg“  hatte man es dabei sogar so eilig, daß im Inhaltsverzeichnis die Verfassernamen fehlen. So ist nur zu erraten, von wem der Beitrag über „Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik“, vornehmlich in Rußland und Weißrußland, stammt (wohl von Martin Aust, Kiel), wer über „Kulturelle Heterogenität – Chancen für ein neues Europa?“ (Ulrich Schmid, St. Gallen) und über „Werte und Recht“ (Angelika Nußberger) schrieb. Doch was am Lektorat fehlt, wird durch die tadellose Haltung der bombenfest in der „westlichen Wertegemeinschaft“ verankerten Autoren mehr als ausgeglichen. „Nur die USA“ hätten eindringlich vor diesem Krieg gewarnt, an dem die „Großmannssucht Rußlands“, aber ebenso ein „latenter Antiamerikanismus der deutschen und russischen politischen Klasse“ schuld seien. Nicht vergessen wird bei diesem Rundumschlag natürlich die polnische PiS-Regierung, die sich Justiz und Medien „dienstbar“ gemacht habe (nach bundesdeutschem Vorbild?), sowie der Finsterling Viktor Orbán, der in Ungarn die „demokratischen Grundlagen des demokratischen Systems unterminiert“. Die Urheber solcher Agitation könnten kaum protestieren, schmähte man sie mit einer SED-Formel aus Kalten-Kriegs-Zeiten: „Nato-Professoren“. (ob) 

Angelika Nußberger, Martin Aust u. a. (Hrsg.): Europa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg. Besichtigung einer Epoche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, broschiert, 254 Seiten, 18 Euro





Untergang. Der französische Autor Michael Houllebecq versteht sich darauf, sein Gegenüber zu quälen. Wenn ihm im Gespräch eine Frage gestellt wird, kann mitunter eine Minute vergehen, bis er antwortet. Für den Publizisten Gunnar Decker sind das „Machtdemonstrationen des Nichts“. Er widmet sich dem „maßlosen Raucher“ Houllebecq und dessen Werken. Oftmals geht es um das Motiv des Untergangs. Laut dem Franzosen leben wir alle in „käuflichen Ersatzwelten“. Es reicht ihm Decker zufolge aber nicht, die angeblichen zahlreichen Parallelwelten aufzuzeigen, er bringt sie auch offensiv auf Kollisionskurs. Zudem weist er in seinen Werken auf Paradoxien hin. Etwa auf den Wunsch, ewig jung zu bleiben, um dann doch nur ständig ans Alter zu denken. Letztlich offenbare der Autor die „moralische Krise der westlichen Welt“: Anpassung münde in geistigen Tod, Verweigerung in gesellschaftliche Ausgrenzung. Für alle Freunde von Houllebecqs Werken ist Deckers Darlegung dieser Kunstfigur ein interessanter Abriß. Wer diese nicht kennt und Humor verträgt, kann sich dadurch an die eigensinnigen Bücher des Franzosen heranwagen. (zit) 

Gunnar Decker: Houellebecq, das Ungeheuer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022, gebunden, 271 Seiten, 22 Euro