© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Auf halber Strecke
In seinem Buch über Migration bietet der Soziologe Thomas Faist viel empirisches Materials – ohne es zu interpretieren. Ideologen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren
Fabian Schmidt-Ahmad

Wieder ist Deutschland zum Ziel einer gewaltigen Wanderungswelle, vornehmlich aus dem Orient, geworden. Wie sich die Bilder zu 2015 ähneln: Mit jungen Männern überfüllte Ämter, Einrichtungen, Turnhallen. Und verängstigte Kommunalpolitiker, die mit furchtsamem Schulterblick versuchen, die Folgen einer sozialen Katastrophe anzusprechen. Eine Katastrophe, die wie eine angebliche Naturgewalt über uns hereinbricht. Irrational, wer diesen Prozeß hinterfragt, sich ihm gar entgegenstellt. Doch selbstverständlich ist dieser Prozeß die Folge von Politik, die einer klaren Agenda folgt. Einen Einblick in diese vermittelt Thomas Faist mit seinem umfangreichen Werk „Exit“ über „globale Migration im 21. Jahrhundert“. Faist, der an der Soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld lehrt, berichtet damit gewissermaßen aus dem Auge des Sturms. Denn selbst unter deutschen Universitäten besitzt Bielefelds ideologischer Streichelzoo eine gewisse Berühmtheit.

Vielversprechend fängt Faist auch schon auf den ersten Seiten an, mit Karl Marx und dem „Kommunistischen Manifest“ zu hantieren. Doch während sich der Leser bereits in Erwartung eines ideologischen Wirbelwinds zurücklehnt, bricht Faist ab und geht weiter. Zurück bleibt das eher banale Konstrukt über die Motivlage von Auswanderern: „Prinzipiell gibt es drei Antworten auf sich verschlechternde Bedingungen in Gruppen“, nämlich „Abwanderung (Exit) sowie politischer Widerspruch (Voice) oder Loyalität (Loyalty)“.

Nächster Abschnitt, nächster Versuch, diesmal mit Jean-Jacques Rousseau. Dieser habe erkannt, „daß Ungleichheiten keineswegs als quasi-natürliche Ergebnisse menschlichen Zusammenlebens entstehen, sondern moralischer Bewertung unterliegen und von daher, so eine heutige Formulierung, sozial konstituiert werden“. Und daraus folgt? Faist bricht wieder ab und entsetzt sich plötzlich mit moralischen Unterton über „diskriminierende Stereotype“ gegenüber Einwanderergruppen in der Analyse von Migration. Der Leser bleibt verwundert zurück.

Wenn ein Migrationsforscher Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen von 1755 erwähnt, läge doch eigentlich nahe, auf dessen berühmte Passage einzugehen: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft“, was für Rousseau die Ursache für „Verbrechen, Kriege, Morde“ sei. Seine Vorbildfunktion für „Sea Watch“ & Co. ist unverkennbar.

Auch bei Marx gäbe es bessere Anknüpfungspunkte, wie beispielsweise die Charakterisierung der kapitalistischen Wirtschaftsweise als über den Nationalstaat hinauswachsend. Doch das läßt Faist ebenfalls liegen. Der Verdacht drängt sich auf, daß diese Werke repräsentativer Denker einfach günstig im Regal standen. Was zugleich die große Schwäche des Buchs ausmacht. Faist trägt zwar eine Fülle empirischen Materials zusammen, doch was will er uns damit eigentlich sagen?

Faist ordnet sein Material leider mit geringer Theorietiefe. Beschreibung auf Beschreibung folgt, um dann plötzlich unvermittelt eine normative Forderung aufzustellen, die sich aber meistens nicht aus dem Vorhergehenden ableiten läßt, zumindest nicht mit dem vorgestellten Instrumentarium. Bereits der erste Satz des Klappentextes ist so ein Fall: „Die Frage, auf welchem Fleckchen Erde man geboren wurde, ist längst zum Bestimmungsfaktor individueller Lebenschancen geworden.“

Eine Anklage, die aber eine Kleinigkeit vergißt. Wann sollte es denn laut Faist mal einen Zeitpunkt in der Menschheitsentwicklung gegeben haben, in dem das nicht der Fall gewesen sein soll? Rousseau benennt ihn wenigstens, auch wenn es nur ein Phantasma ist. Doch Faist schreitet begründungslos einfach weiter zu seinen Forderungen von Migration, Migration über alles in der Welt. Er bleibt so viele Antworten schuldig, vor allem die wichtigste: Warum soll Migration – ganzheitlich betrachtet – die Lage der Menschheit verbessern?

Denn selbst der dürftige Ideenbau, den Faist mit Exit, Voice und Loyalty vorstellt, läßt doch nur den Schluß zu, daß ersteres letztere behindert oder gar unmöglich macht. Das heißt aber, daß Migration gegen sozialen Fortschritt, gegen soziale Reformen gerichtet ist. Und daß Migration letztlich die Solidargemeinschaft zerstört. Vielleicht ist es daher ganz gut, wenn Faist mit seinem Denken irgendwo an der Oberfläche des empirischen Materials entlangsegelt. So entgeht ihm der entsetzliche Schaden, den er und andere anrichten.

Ideologen der Vergangenheit waren zwar gleichfalls weltfremd, jedoch lebten ihre besseren Vertreter in intellektuellen Spitzfindigkeiten, die doch ein gewisses Nachdenken erfordern. Bei den Befürwortern der Migrationsideologie ist derartiges nicht zu sehen, auch nicht bei Faist. Hier herrscht eine seltsame Gefühlsmelange vor, anfällig für Manipulation aller Art, die merklich unwillig ist, sich gedanklich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Was an ungeerdetem intellektuellem Rest übrigbleibt, wird so schnell zum Wortgeklingel: „Auch wenn rechtspopulistische oder gar rechtsextreme Politik stark zur Versicherheitlichung von Migrationspolitik beiträgt, so sind es doch die grundlegenden institutionellen Funktionsweisen verschiedener Dimensionen von Staatlichkeit, welche die Konstitution von Migration als transnationalisierte soziale Frage strukturieren.“ Ideologen sind auch nicht mehr, was sie mal waren.

Thomas Faist: Exit – Warum Menschen aufbrechen. Verlag C. H. Beck, München 2022, gebunden, 400 Seiten, 32 Euro