© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Die Welt aus dem Geiste des Mythos
J. R. R. Tolkien erreichte mit seinen Werken die „Wiederverzauberung der Welt“. Armand Berger beschreibt diese literarische Großtat
Zita Tipold

Mythen sind weit mehr als nur Geschichten. Im Gegensatz zu frei erdachten Erzählungen knüpfen sie ein Band zwischen einem Volk und seiner heimatlichen Umwelt. Sie erheben seine Geschichte zu etwas Bedeutsamen und stiften Sinn. Womöglich sind es die Orientierungslosigkeit und der fehlende Halt dieser Zeit, die derzeit für ein Wiederaufleben von Werken wie „Der Herr der Ringe“ sorgen – auch wenn sie mittlerweile von Streamingdiensten wie Amazon Prime politisch korrekt umgeschrieben und damit verfälscht werden.

John Ronald Reuel Tolkien war nicht nur Schriftsteller und Philologe, sondern auch ein zutiefst politischer Mensch, der um die Bedeutung von Mythen wußte und mit zahlreichen entsprechenden Dichtungen aus dem nordwestlichen Europa vertraut war. Der Skandinavist Armand Berger widmet sich in der Abhandlung „Tolkien, Europa und die Tradition“ der genialen Kosmogonie des Autors, die – wie er es treffend beschreibt – eine „Wiederverzauberung der Welt“ bietet. 

Tolkiens Ziel war es, eine Mythologie für England zu erschaffen. Frankreich hatte schon damals sein Rolandslied, Italien die Commedia und Deutschland das Nibelungenlied. Die mittelalterliche angelsächsische Elegie „Beowulf“ war der Sprache nach zwar englisch, aber von skandinavischem Hintergrund. So machte sich der Schriftsteller daran, die Lücke zu schließen. 

Während seiner Schaffenszeit entwickelte der Brite, den man vorbehaltlos als philologisches Genie bezeichnen kann, mehr als 40 Phantasiesprachen mit eigenem Vokabular und mitunter komplexer Grammatik. Die von ihm anvisierte Mythologie für England sollte auch in ihrer Tonalität authentisch wirken. „Tolkien verankert das poetische Wort in einem archetypischen und mythischen Verständnis von Wort, Bild und Rhythmus, einem fein gearbeiteten Mosaik, das auf uns wirkt, während eine seltsame neue und doch vertraute Zivilisation enthüllt wird“, verdeutlicht Berger. Das Legendarium des Autors kennzeichne eine einzigartige Klangfarbe, die von traditionellen Leitmotiven durchsetzt sei. 

Freilich versuchte sich auch Tolkien wie viele Autoren an einer Erzählung über die Erschaffung des Universums und das Erwachen der Menschen. In seinem Roman „Silmarillion“ heißen die ersten Wesen Ermon und Elmir, wohl inspiriert vom altnordischen „Askr“, das in der skandinavischen Tradition der Name des ersten Menschen ist. Mythen tragen als literarisches Fundament gewissermaßen zur Festigung nationaler Identität bei. Nicht ohne Grund ist beim Katholiken Tolkien immer wieder von einem „konservativen Geist“ die Rede. Seine Geschichten handeln von Helden, die sich dem Niedergang ihrer Welt entgegenstellen. Berger zeigt dies in seiner Abhandlung hervorragend auf. 

Beginnend mit einem biographischen Streifzug, umreißt er den Tolkienschen Kosmos, stellt die verschiedenen Einflüsse auf den Philologen dar und nimmt immer wieder Bezug auf dessen Werke. Den Abschluß des Buches bildet ein Kurzinterview mit JF-Autor und Althistoriker David Engels. Dieser hebt noch einmal die Essenz von Tolkiens Schaffen hervor: „Das Streben nach dem Wahren, Schönen und Guten.“

Armand Berger: Tolkien, Europa und die Tradition. Zivilisation im Spiegel des Imaginären. Jungeuropa-Verlag, Dresden 2022, gebunden, 104 Seiten, 14 Euro