© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Unnützes Missionieren
David van Reybrouck schildert vor dem Hintergrund von „Critical Whiteness“ die Dekolonisierung Indonesiens – eine Monumentalerzählung für schlichte Gemüter
Albrecht Rothacher

In aller Kürze: Eine absolut spannende Geschichte absolut grauenhaft geschrieben. Im Jahr 1605 gründete die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC) die ersten Handelsstützpunkte für die Beschaffung tropischer Gewürze in jener Inselgruppe Dutzender hindu-buddhistischer Fürstentümer, die über 16.000 Inseln verstreut waren. 350 Jahre später, im Jahr 1950, entließen die Niederländer auf US-amerikanischen Druck nach einer dreijährigen japanischen Besetzung und vierjährigen Kämpfen ihre reichste Kolonie als den Einheitsstaat Indonesien in die Unabhängigkeit, der heute mit 286 Millionen Einwohnern das größte muslimische Land der Welt ist. 

David van Reybrouck, ein flämischer Publizist, gehört zu jener wenig originellen Schule des modischen Linksrevisionismus, der jegliche Kolonialisten eo ipso als aggressiv, ignorant und geldgierig darstellt und die Eingeborenen, und seien es die Dayak als Kopfjäger auf Borneo und die Papuaner als Kannibalen auf Neuguinea, als sanftmütige und gutgläubige edle Wilde. Zweiter Vorbehalt: Das Buch ist, wenn es nicht so dickleibig wäre, wie es früher so schön hieß, „für den Schulgebrauch geeignet“. Dem Schreibstil können auch 14jährige mühelos folgen, zumal sämtliche politisch korrekten Wertungen des Autors dutzendmal wiederholt werden, so daß sie auch beim Durchblättern hängenbleiben. Methodisch hat er aus ausgiebig zitierten, ihm gefälligen Sekundärquellen abgeschrieben. Deren Darstellungen belebt er durch Interviews mit überlebenden „Zeitzeugen“, und seien es hundertjährige senile Greise oder deren Enkel, die die Moritaten des Großvaters mit allen unausbleiblichen Ausschmückungen nacherzählen. Mit jener Methode des journalistischen Hörensagens erweckt er den Anschein von Authentizität.

„Die Entstehung der modernen Welt“ im Untertitel ist wohl der Marketingabteilung des niederländischen Erstverlages geschuldet: Es handelt sich um den allgemeinen Ent-Kolonialisierungsprozeß, der mit Indien, Burma und den Philippinen in Asien nach Kriegsende 1945 seinen Ausgang nahm und in den sechziger Jahren auf Afrika übergriff und um die Asien-Afrika-Konferenz in Bandung auf Westjava von 1955 wo Sukarno, Nehru und Nasser die linkslastige Bewegung der Blockfreien gründeten. 

Die interessantesten Kapitel betreffen wohl den Zweiten Weltkrieg, der die Unabhängigkeit Indonesiens fünf Jahre später unter Suhartos Herrschaft sehr beschleunigte. Da Tokio für seine Kriegsführung in China Rohöl aus Borneo und Sumatra benötigte, verlangte Japan Ende 1940 von der nach London geflüchteten Exil-Regierung von Königin Wilhelmina die Stationierung japanischer Truppen in Niederländisch-Indien unter Beibehaltung der niederländischen Kolonialverwaltung, ähnlich wie dies im von Vichy kontrollierten Französisch-Indochina erfolgt war. Die Regierung weigerte sich im sicheren Londoner Exil, schloß sich im Juli 1941 dem anglo-amerikanischen Ölembargo an und erklärte Japan nach Pearl Harbor im Dezember 1941 in völliger Überschätzung der Kräfte seiner 30.000 Mann starken Polizeitruppe vor Ort den Krieg. 

Es kam so zu einem eigentlich ungeplanten und völlig entbehrlichen japanischen Vorstoß nach Südostasien, bei dem die kriegserprobte japanische Armee in einem Blitzkrieg von drei Monaten alle Kolonialtruppen, die US-Amerikaner auf den Philippinen, die Briten in Malaya, Burma und in der „uneinnehmbaren“ Seefestung Singapur, und schließlich die Niederländer besiegte. Statt ihre kleine Flotte nach Australien in Sicherheit bringen, lieferte sie im anglo-amerikanischen Verbund den Japanern im Februar 1942 in der Javasee eine aussichtslose Seeschlacht, die ohne Luftunterstützung prompt verloren wurde. Dann zerstörte die Kolonialverwaltung vor der nahezu kampflosen Eroberung fast alle Ölfelder, Pipelines, Tanks und Raffinerien, was die neuen Besatzer, die nun die niederländische Zivilbevölkerung zu internieren begannen (so wie es 1940 den Deutschen vor Ort von den Niederländern angetan wurde), zu Brutalitäten gegenüber den „entehrten“ Kriegsgefangenen reizte. 

Zunächst war Japan nur an der wirtschaftlichen Ausbeutung seiner unverhofften Kriegsbeute (Erdöl, Kautschuk, Zinn, Kohle, Baumwolle, Rohrzucker, Tabak) und an zwangsverpflichteten Arbeitskräften (Romusha) für seine Eisenbahn-, Tunnel-, Bergwerks- und Hafenprojekte – einschließlich der Brücke am River Kwai – interessiert. Als sich das Kriegsglück nach den Schlachten von Midway und Guadalcanal auf den Salomonen im Februar 1943 wendete, propagierte die Besatzungsmacht den „Panasiatismus“, gewährte den Philippinen und Burma die „Unabhängigkeit“ und versprach dem Nationalisten Sukarno, der auch Islamisten und Kommunisten in seiner „Pancasila“-Ideologie eines monotheistischen sozialen Nationalismus zu vereinen suchte, eine baldige Autonomie. Gleichzeitig wurden Jugendmilizen als Massenbewegung und infanteristisch bewaffnete indonesische Hilfstruppen gegen eine drohende amerikanische Invasion ausgebildet, die in ihrer Strategie des „Inselspringens“ Indonesien jedoch weitgehend aussparte und deshalb ausblieb. 

Nach der japanischen Kapitulation vom August 1945 waren die erst im Mai frei gewordenen Niederlande zu einer Wiederbesetzung ihrer wichtigsten Kolonie militärisch nicht in der Lage. Bald rief Sukarno, der von ihnen als faschistischer Kollaborateur denunziert wurde, die indonesische Republik aus. Deshalb mußten die Briten recht lustlos einspringen, trafen bei ihren Landungen auf Java und Sumatra auf einen Mob mit japanischen Beutewaffen bewaffneter Jugendlicher und islamistischer Milizionäre, die die allgemeine Rechtlosigkeit ausnutzend nach Herzenslust europäisches und chinesisches Eigentum zu plündern und zu brandschatzen begonnen hatten und auch Mischlinge und aus Internierungslagern frisch Befreite oft bestialisch ermordeten. 

Ab Dezember 1945 lösten niederländische Wehrpflichtige dann die Briten in den Hafenstädten Javas und Sumatras ab und begannen zunächst relativ kampflos ins Landesinnere vorzustoßen, wo sich bald ein auf beiden Seiten grausam und mitleidslos geführer Guerillakrieg entspann. Insgesamt gab es bis 1950 drei Waffenstillstandsabkommen, die von beiden Seiten bald gebrochen wurden. Für van Reybrouck waren die Hauptschuldigen natürlich immer reaktionäre Kolonialoffiziere und die rechtskatholische Regierung in Den Haag. Bald wurde der Sukarno-Regierung die Kontrolle über die Hauptinseln Java und Sumatra zugestanden, wo sie zur Freude der USA im Dezember 1948 einen Putschversuch der Kommunisten unterdrückte, die gerade in China dabei waren, den Bürgerkrieg zu gewinnen. So entdeckten die Vereinigten Staaten ihre antikolonialen Sympathien wieder und setzten Den Haag die Pistole auf die Brust: Die dringend benötigten Marshall-Plan-Gelder würde es nur gegen eine Unabhängigkeit für Indonesien geben. Die erfolgte prompt im Januar 1950. Hunderttausend niederländische Soldaten und 52.000 einheimische Hilfstruppen (christliche Ambonesier zumeist) hatten vergeblich vier Jahre lang im Dschungel gekämpft – und werden nach dem ausbleibenden Dank des Vaterlandes siebzig Jahre danach mittlerweile auch jeder Menge Kriegsverbrechen in „brennenden Kampongs“ (Dschungeldörfern) von van Reybrouck und seinen Gesinnungsgenossen geziehen.

Hätte der Autor seine missionarisch vorgetragene Ideologie hintangestellt, hätte er auf einem Drittel des Volumens ein sehr spannendes, intellektuell anregendes Buch schreiben können. Hätte ...

David van Reybrouck: Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, gebunden, 752 Seiten, 34 Euro