© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Das üben wir noch mal
Die Überalterungsproblematik wird nicht mit alten Antworten gelöst. Dafür ist Stefan Schulzes neues Buch über die Vergreisung der modernden Gesellschaft der beste Beweis
Thorsten Hinz

Der Buchautor, Journalist und Podcaster Stefan Schulz will sich zentralen Zukunftsfragen widmen: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn ihre Alterspyramide auf dem Kopf steht? Wenn ihr Altersmedian unaufhörlich nach oben rückt und sich dem 50. Lebensjahr nähert? Was sind die ökonomischen, sozialen, kulturellen, moralischen, politischen Folgen? Wer hält die öffentliche Infrastruktur aufrecht, wenn jedes Jahr nur noch halb so viele Junge in die Arbeitswelt nachrücken wie Ältere ausscheiden? Nicht zu reden von den Renten, dem Pflegebedarf, der Einsamkeit der Hochbetagten. 

Schulz, Jahrgang 1983, pflügt ein schon häufig wie leider fruchtlos beackertes Feld. Der Sozialforscher Meinhard Miegel, heute im 84. Lebensjahr stehend, überschrieb 2003 ein Buchkapitel „Leben in einer schrumpfenden, alternden Bevölkerung“. Der Titel der damals vieldiskutierten Streitschrift lautete „Die deformierte Gesellschaft“. Miegel taucht im Literaturverzeichnis nicht auf, ebensowenig Thilo Sarrazin oder die Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg und Volkmar Weiss. Auch Spenglers Reflexionen über den modernen Menschen, dem seine Existenz fragwürdig geworden ist und der keinen Grund mehr sieht, die generative Kette fortzusetzen, bleiben unerwähnt.

Auf Seite 165 von 180 Textseiten scheint der Autor willens, die Deformation tiefer auszuleuchten. Er zitiert aus der Rede, die das langjährige – inzwischen ausgetretene – Parteimitglied Eugen Abler auf dem CDU-Parteitag 2018 in Hamburg hielt: „Wir töten täglich potentielle Ärzte, Facharbeiter, Pflegekräfte, Lehrer, Priester und so weiter und steuern damit in die demographische Katastrophe. Ohne die Tötung von sieben bis acht Millionen Kindern seit 1975 hätten wir keinen Fachkräftemangel und bräuchten keine Einwanderung.“ Mutig, mutig, das zu zitieren. Bedauerlicherweise fügt Schulz gleich hinzu, Ablers Perspektive sei „dysfunktional und kontraproduktiv“, „weil sie das Problem nicht adäquat erfaßt“.

Tatsächlich? Jede Abtreibung ist eine individuelle Zukunftsentscheidung. Durch millionenfache Massierung hat sich daraus eine fatale kollektive Weichenstellung ergeben. Um mit ihren Folgen fertig zu werden, muß eine Gesellschaft sich zunächst Rechenschaft darüber ablegen, auf welchem Wertefundament ihr bisheriges Handeln beruhte. Erst recht gilt das für die Bundesrepublik, die sich penetrant der Wertebasierung ihrer Politik rühmt.

Schulz zählt das mehr oder weniger Bekannte auf, garniert mit ein paar aktuellen Akzenten: Die Alten majorisieren die Jungen; die Vermögen sind ungerecht verteilt; die Bildung wird vernachlässigt, wie sich zuletzt im Zuge der Anti-Corona-Politik zeigte; Kinder und Beruf sind schwer vereinbar. Das ist wenigstens zur Hälfte richtig, aber es ist auch banal. Ärgerlich sind die Anfängerfehler, etwa wenn der Autor „Deutschland als reiches Land“ bezeichnet. Das war schon vor der selbstverursachten Energieknappheit falsch. Deutschland ist nicht reich, sondern wirtschaftlich leistungsfähig. Nur wird seine Leistungsfähigkeit von der Politik systematisch untergraben. Ähnlich das Lamento über die Kinderarmut, wo Schulz die Kernfrage umgeht: Wachsen die Kinder in Armut auf, weil ihre Eltern durch die Erfüllung ihres Kinderwunsches ins soziale Abseits geraten sind, oder wurden die Kinder in die berühmt-berüchtigten Sozialhilfedynastien hineingeboren? Da ist es nur konsequent, wenn der Autor die Einwanderung nur unter quantitativen und nicht qualitativen Gesichtspunkten thematisiert.

Ein Familien- oder Kinderwahlrecht wäre gegenwärtig fatal, denn natürlich werden Empfänger von Sozialleistungen stets der Meinung sein, daß die staatlichen Leistungen erhöht, die Leistungsträger also stärker belastet werden müssen. Und das in einem Staat mit einer der weltweit höchsten Steuer- und Abgabenlasten. Rationaler wäre ein Wahlrecht, das an das Steueraufkommen gekoppelt ist.

Der Autor wünscht sich mehr junge Leute in der Politik und erwähnt Ricarda Lang und Kevin Kühnert als Pioniere. Mit Lob bedacht wird „Fridays for Future“. Die Spaziergänger gegen Lauterbachs Corona-Diktat nennt Schulz die „Irrsinnigen“. Politisch korrekter Fastfood also. Besserung verspricht er sich von vermehrter Umverteilung. Zum Beispiel durch das „Erbe für alle“ und das „bedingungslose Grundeinkommen“. 

Der Autor ist belesen, wohlmeinend, gescheit, doch sein Buch gehört zu der Sorte, deren Weg vom Messestand zum Grabbeltisch und von dort zur Papiertonne kurz ist.

Stefan Schulz: Die Altenrepublik. Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2022, gebunden, 223 Seiten, 23 Euro.