© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Ideologie essen Seele auf
Unter dem Krippensystem in der DDR haben viele gelitten. Florian von Rosenberg nimmt sich den Folgen sozialistischer Erziehung an
Martin Voigt

Sechs Wochen nach der Geburt ihres Kindes mußten die Frauen wieder zur Arbeit erscheinen – im Namen ihrer Gleichstellung und um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft überholte Familienbilder zu überwinden. Was nach aktueller SPD-Politik klingt, entstammt der sozialistischen Propaganda aus der DDR von 1950. Um Mütter aus den tradierten Verhältnissen zu befreien, ließ die SED-Führung ihre Kinder institutionell betreuen und Krippen eiligst aus dem Boden stampfen. In jeder Stadt entstanden Tageskrippen, aber auch Wochenkrippen für die Kinder der Schichtarbeiter und Kinderheime zur Unterbringung zum Beispiel von Kindern, deren Eltern aus politischen Gründen inhaftiert waren. Vor der Wende lag die Fremdbetreuungsquote von unter Dreijährigen bei über achtzig Prozent.

Die „kleinen und großen Krabbler“ hatten einen hohen Preis für das sozialistische Prestigeprojekt zu zahlen. Kinderärzte berichteten von massiven psychischen Schäden bei den aus ihren Familien gerissenen Babys sowie von auffallend vielen Erkrankungen und einer hohen Säuglingssterblichkeitsrate, die im internationalen Vergleich den traurigen Spitzenplatz einnahm. Die Trennung der Kinder von ihren zwangsemanzipierten Müttern blieb politischer Wille, doch das Interesse an den Kollateralschäden war geweckt. Das war die Geburtsstunde der geheimgehaltenen DDR-Krippenforschung. Man versuchte die Mißstände zu kaschieren und verbreitete in den Staatsmedien das Märchen von der vortrefflichen Pflege durch ausgebildete Pflegerinnen, die die Betreuung in der Familie bei weitem überträfe. Die akribische Dokumentation der damals Verantwortlichen wanderte in die Akten des Ministeriums für Gesundheitswesen. Die bisher vernachlässigten Quellen sind die Grundlage für den Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg, „eine Geschichte der DDR-Krippenkinder zwischen 1949 und 1989 zu erzählen“.

Rosenbergs Buch „Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen“ erzählt die Schicksale kleiner Kinder, die hinter dem psychiatrischen Fachbegriff „Hospitalismus“ stehen. Verzweifelte Briefe beunruhigter Mütter, Arztberichte und Studienergebnisse der beginnenden Bindungsforschung ergänzen die zahlreichen Inspektionsberichte aus den Krippen. Ungelernte Nachtwächterinnen beaufsichtigten allein bis zu fünfzig zusammengepferchte Kinder. Von der öffentlichen DDR-Berichterstattung über die Krippen – gemeinsam spielen, singen und fröhlich sein – bleibt nichts übrig.

Die von ihren Müttern getrennten Kinder schrien und wimmerten stunden- und tagelang, sie verfielen in Apathie, verloren an Gewicht und waren häufiger krank als gesund. Tausende Säuglinge starben. Die DDR-Archive sind voll mit nüchternen Aktenvermerken, die offenbaren, wie Eltern verzweifelten und Kinder seelisch zerbrachen. Rosenberg nimmt den Leser mit ins Jahr 1953, als der acht Monate alte Peter an einem dunklen Montagmorgen von seiner Mutter in einer Wochenkrippe abgegeben wird. Er erzählt wie der kleine Michael 1959 nachts unbemerkt in seinem Bettchen starb. Er hatte sich mit einem Lederriemen stranguliert. Der war ihm umgelegt worden, weil er mit seinen 14 Monaten schon allein aus dem Bettchen klettern konnte.

Ab den Siebzigern mußten die Kinder erst mit einem Jahr in die Krippe. Laut damaligen sowjetischen Studien eine Altersphase, in der Kinder eine „starke emotionale Abhängigkeit“ entwickeln. Die Aufnahme in die Krippe sei ein „ungeheuer belastendes psychisches Ereignis“. Die Kinder riefen nach ihrer Mutter und rannten weinend zur Tür  oder warfen sich auf den Boden. Andere reagierten leise, berichtete eine Krippenforscherin, und verhielten sich „völlig ruhig, lächeln nicht, spielen nicht, sprechen nicht“. Einige Kinder näßten oder koteten ein, obwohl sie bereits sauber waren. „Anpassungsstörungen“ nannten das die Kinderärzte. Die Gesundheitsminister hatten die Warnungen der Bindungsforscher vorliegen, wie Rosenberg belegt.

Wie konnte sich die ideologiegetriebene Kindesmißhandlung im DDR-Krippensystem nach der Wende mit dem flächendeckenden Kita-Ausbau fortsetzen? Diese Frage beantwortet Rosenberg im Nachwort nur knapp. Eine Fortsetzung seiner historischen Aufarbeitung liegt in der Luft.

Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen. Verlag C. H. Beck, München 2022, broschiert, 288 Seiten, 18 Euro