© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Konfuse Verfassungseltern
Disparates Niveau und ohne roten Faden. Der Jurist Georg M. Oswald präsentiert 38 Kommentierungen verschiedenster, teils fachfremder Autoren zum Grundgesetz
Björn Schumacher

Kulturkampf in gespaltenen Gesellschaften ist immer auch ein „Kampf ums Recht“ (Rudolf von Jhering, 1872). Im Vordergrund steht das Verfassungsrecht. Nur bedingt überrascht daher das Erscheinen eines „literarischen Kommentars“ zum Grundgesetz. 

Herausgeber Georg M. Oswald, Schriftsteller und Jurist, will „ein großes Versprechen“ abgeben. Seine diffusen Leitbegriffe „Nichtjuristen“, „Krieg“, „Freiheit“ und „Außenseiter“ werfen indes Fragen auf. Die zusammengewürfelte Autorenschaft aus Schriftstellern und Journalisten, weiteren Kulturschaffenden sowie mehr oder weniger prominenten Juristen verstärkt den spontanen Eindruck konzeptueller Schwäche. 

Die Grundgesetz-Präambel kommentiert Susanne Baer, Richterin am Bundesverfassungsgericht und Professorin für öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Berliner Humboldt-Universität. Gender-Aktivistin par excellence, hält sich Baer hier merklich zurück. Die feministische Attacke wird vertagt und blitzt nur im Gendersprech „Verfassungseltern“ (statt „Väter der Verfassung“) auf. Lehrreich sind Baers rechtsvergleichende Hinweise auf andere Kodifikationen.

Antitotalitär verortet sich die rumäniendeutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller zu Artikel 1 des Grundgesetzes (GG), dem „Schutz der Menschenwürde“. Würde als Ausdruck geistiger Freiheit und Unabhängigkeit erläutert sie am Leitfaden der Aufklärung. Im kommunistischen Rumänien drangsaliert, schildert Müller die ineinandergreifenden Mechanismen des Totalitarismus: „Alte Faschisten mutierten zu 150prozentigen Kommunisten. Der rote Sozialismus war braun im Kopf. Eine Diktatur verlängerte sich in die andere. Der Faschismus in den Stalinismus, nach Stalins Tod 1953 in den Post-Stalinismus.“

Mit der Menschenwürde korrespondiert Artikel 2 Absatz 1 GG („Freie Entfaltung der Per-sönlichkeit“). Freiheit ist für Jurastudent Tristan Wißgott ein „politischer Auftrag“, der nicht dem Regelungseifer Karlsruher Verfassungsrichter zum Opfer fallen dürfe. Dies münde in die Forderung, „jedem die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zu ermöglichen, ohne die Rechte anderer zu verletzen“. Was auf Anhieb innovativ klingen mag, entlarvt sich spätestens hier als Paraphrase des Grundgesetztextes.

Wenig Ertrag liefern auch die Kommentierungen des Artikel 3 GG. Kein Autor stellt systematisch heraus, daß bereits Absatz 1 – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ – in einer weiten, auch Exekutive und Judikative bindenden Auslegung die Gleichheit staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten sichern würde. 

Die im Grunde überflüssige Originalfassung des Artikel 3 Absatz 2 GG von 1949 − „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – läßt sich daher als Reaktion auf patriarchalische Geschlechterrollen deuten. Sie ging 1994 in einem egalitaristischen Gesamtkonzept auf. Dem Staat wurde auferlegt, „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ zu fördern. Es war der Einstieg in einen freiheitsfeindlichen Quoten- und Gleichstellungsfuror, der nach dem öffentlichen Dienst längst auch Teile der Privatwirtschaft und deutsche Mainstream-Parteien durchdringt. 

Ein antitotalitäres Bekenntnis spiegelt sich in den Gleichbehandlungsgeboten des Artikel 3 Absatz 3 GG. Irritierend ist dagegen das auf europarechtlichen Vorgaben beruhende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006. Es schleust den postmodernen Antidiskriminierungskult in das vom Prinzip der Privatautonomie be-herrschte Zivilrecht und blockiert die Freiheit von Vermietern und Arbeitgebern bei der Auswahl ihrer Vertragspartner. 

Noch unbefriedigender sind die Analysen der Artikel 16 GG („Schutz vor Ausbürgerung und Auslieferung“) und Artikel 16a GG („Asylrecht“). Jurist und Zeitungskorrespondent Ronen Steinke lästert über den Souverän des demokratischen National-staats als „Club der Deutschen“. Die Schweizer Schriftstellerin Dana Grigorcea schildert familiäre Anekdoten. Von den Regeln des nationalen und internationalen Flüchtlingsrechts und der durch Merkels „Grenzöffnung“ entfachten „Herrschaft des Unrechts“ (Ulrich Vosgerau) erfährt der Leser nichts. 

Aber es gibt auch Vorbildliches. Einen fulminanten rechts- und kirchenhistorischen Abriß präsentiert ein streitbarer Geist deutscher Literatur: Martin Mosebach. Seine Abhandlung über Artikel 4 GG („Glaubensfreiheit“) bietet viele Denkanstöße. Spannungsgeladen ist die Schlußprognose, wonach „die kleine übriggebliebene Kirche“ sich nach einer Phase „berechnender Anpassungsbereitschaft (…) in einem echten, durchaus auch feindseligen Gegensatz zum Staat wiederfinden“ dürfte – „offener Ungehorsam“ inbegriffen.  

Auf ähnlich solidem Fundament argumentiert die Staats-, Kunst- und Kulturrechtlerin Sophie Schönberger über Artikel 20 GG („Verfassungsrechtliche Grundprinzipien“). Das Strukturprinzip Demokratie verheiße zwar Teilhabe und Gleichheit, habe aber – zum Leidwesen „progressiver“ Rechtsdenker – durch den Bezug zum (deutschen) Volk ein prägendes ausgrenzendes Element. Zudem konfrontiere Demokratie den Mainstream mit der „Zumutung“, alternative politische Denkmuster als prinzipiell gleichrangig akzeptieren zu müssen. 

Zu den Lichtblicken des „literarischen Kommentars“ zählen auch die systematischen Darlegungen der früheren Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio („Politische Parteien“, Artikel 21 GG) und Andreas Voßkuhle („Die Rechtsprechung“, Artikel 92 bis 104 GG). Eine befremdliche Polemik Di Fabios wie die Kennzeichnung Donald Trumps als „komplett ungeeignet, ja gefährlich“ und seiner Republikaner als „paralysiert, deformiert“ ändert daran wenig.   

Dazu gesellt sich die profunde Kritik des Staatsrechtlers und Politikwissenschaftlers Florian Meinel am bürokratisch peniblen, die strukturelle Offenheit eines Verfassungstextes sprengenden Artikel 23 GG („Europäische Union“). Ungeachtet ihrer Sehnsucht, „in Europa aufzugehen“, bleibe die Bundesrepublik dennoch: „Deutschland. Mit seinen Bekenntnissen zum Universalismus (…) und seinem gebrochenen Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, seinem seltsamen Föderalismus (...) und seinem Verdacht gegen die Mehrheitsherrschaft, mit seinen Träumereien von echter Demokratie und dritten Wegen zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Sozialismus.“

Am Ende bleiben immer noch Fragen: Was genau meint „literarisch“? Warum spielen zentrale Verfassungsthesen, etwa zu den Grundrechten als Abwehrrechten des Bürgers gegen die Staatsgewalt (Artikel 1 Absatz 3 GG), eine eher untergeordnete Rolle? Welche Leserschaft soll dieser methodisch und inhaltlich disparate Kommentar ohne Sach- und Personenregister ansprechen?

Georg M. Oswald (Hrsg:): Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar.  Verlag C. H. Beck, München 2022, gebunden, 381 Seiten, 26 Euro