© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Durch die rosarote Brille gesehen
„Phlegmatische Mittigkeit“: Bilanz eines selbstzufriedenen Boomers
Ludwig Witzani

Der Zeit-Journalist Thomas E. Schmidt wurde 1959 geboren und gehört damit zur sogenannten „Baby-Boomer-Generation“. Die Angehörigen dieser Boomer-Generation (etwa 1958 bis 1966) gehen nun peu à peu in Rente. Grund genug für Thomas E. Schmidt, auf sein Leben und das seiner Generation einen vergleichenden, autobiographisch-historischen Rückblick zu werfen. 

Uninteressant ist das nicht, denn der Autor präsentiert im vorliegenden Buch den Werdegang eines typischen homo bundesrepublikaniensis, der in einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit ins rot-grüne Milieu  hineinsozialisiert wurde und sein Leben lang darin verblieb. Quälte sich der kleine Thomas in Kindheitstagen noch mit autoritären Lehrern herum, folgten bald APO und RAF, dann Studium und Häuserbesetzungen, Historikerstreit und schließlich die überraschende und nicht sonderlich enthusiastisch begrüßte Wiedervereinigung. 

Nach der Jahrtausendwende vollendeten dann der smarte Brionikanzler und die Rau-tenfrau die Modernisierung Deutschlands unter rot-grünen Vorzeichen. So verstrichen die Jahre, die Boomer wurden erwachsen, bekamen Kinder (nicht sonderlich viele), um schließlich fast zeitgleich mit Angela Merkel in Rente zu gehen. Zwar hätte es ruhig noch ein wenig emanzipatorischer, multikultureller oder klimasensibler zugehen können, aber insgesamt zieht der Autor eine positive Bilanz, denn, so Thomas E. Schmidt, die Boomer-Generation war die „reflektierteste“, die die deutsche Geschichte bisher gesehen hat, eine Alterskohorte, deren „Zivilität“ und „phlegmatische Mittigkeit“ hinreichte, bestimmte Schattenseiten des deutschen Wesens auszugleichen.  

Fürwahr, eine schöne Bilanz, die möglicherweise das Leben des Autors, nicht aber die Entwicklung des Landes zutreffend wiedergibt. Denn dieser europäische Musterstaat, den der Autor beschreibt, hat mit der faktischen Bundesrepublik nicht sonderlich viel zu tun. Mehr noch: Die Verwandlung der zweiten deutschen Demokratie in eine Parteienoligarchie, die extreme Verengung des Meinungskorridors, die Zerschlagung einer funktionierenden Energieversorgung, die demographische Schieflage, der dramatische Niedergang der schulischen Bildung und der Verteidigungsfähigkeit sowie der Integrationsnotstand und die Inflation bleiben ganz einfach außen vor. 

Der Ukraine-Krieg und die damit zusammenhängenden Konflikte bringen den Autor in der Endredaktion seines Buches zwar ein wenig ins Schleudern, aber die „Nachboomer-Generation“ wird es schon richten. Schade um die elegante Sprachkunst des Autors, der sein Land und seine Generation mit einer allzu rosaroten Brille betrachtet. 

Thomas E. Schmidt:  Große Erwartungen. Die Boomer, die Bundesrepublik und ich. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, gebunden, 256 Seiten, 23 Euro