© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

„Es ist ein Alarmzeichen“
Interview: Gibt es mehr als zwei Geschlechter? Das glaubt inzwischen eine Mehrheit der Deutschen. Für den Zellbiologen Hans Peter Klein eine Folge der Unterwanderung der Wissenschaft durch die Gender-Ideologie
Moritz Schwarz

Herr Professor Klein, laut INSA-Umfrage glauben nur noch 38 Prozent der Deutschen, daß es zwei Geschlechter gibt, 49 Prozent glaubt an mehr. Ein Alarmzeichen? 

Klein: Wenn das biologische Geschlecht gemeint ist, haben wir es in der Tat mit einem Alarmzeichen zu tun. 

Müßte dann nicht angesichts des Umfrageergebnisses eine Schockwelle durchs Land gehen?  

Klein: Natürlich! An diesem Beispiel sehen Sie aber, wie die Öffentlichkeit durch die öffentlich-rechtliche Berichterstattung verunsichert ist. 

Beweist aber der Autor Kim de l’Horizon, der eben den Deutschen Buchpreis erhalten hat und beansprucht, „non-binär“ – also weder Frau noch Mann – zu sein, nicht das Gegenteil? 

Klein: Ich hoffe nur, daß er den Preis für die Qualität seines Buches bekommen hat und nicht dafür, daß er sich als non-binär geoutet hat. Leider ist aber von der Queer-Community genau das in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt worden. Offenbar ist kaum jemandem bewußt oder man will es nicht wissen, daß wir nach wie vor gut daran tun, zwischen biologischem Geschlecht – Sex – und sozialem Geschlecht – Gender – zu unterscheiden. Biologisch ist die Sache eindeutig: Zwei Chromosomen bestimmen das Geschlecht: das X- und das Y-Chromosom. XX ist eine Frau, XY ein Mann. 

Allerdings gibt es doch Intersexuelle, die anders als Kim de l’Horizon tatsächlich körperliche Merkmale beider Geschlechter aufweisen. Existiert mit ihnen nicht wenigstens ein weiteres Geschlecht?

Klein: Zunächst einmal: Intersexuelle sind extrem selten. Die Ursache sind chromosomale Aberrationen, also Abweichungen in der Evolutionslotterie. Bekannte Beispiele sind XO für das Turner-Syndrom mit eher weiblichem Phänotyp (tritt bei weniger als 1:2.500 Frauen auf) oder XXY mit eher männlichem Phänotyp (bei weniger als 1:5.000 Männern). Beide Formen sind unfruchtbar, also für die Evolution bedeutungslos. Menschen beider Formen haben lebenslang mit Krankheitssymptomen zu kämpfen, können aber bei medizinischer Behandlung ein weitgehend normales Leben führen. Doch auch hier gilt: beide Formen lassen sich eindeutig einem der beiden Geschlechter zuordnen.

Aber was ist mit Tieren, die zwei Geschlechter gleichzeitig haben, den sogenannten Zwittern? Sind sie kein Beleg für die Existenz eines dritten Geschlechts? 

Klein: Nein. Auch Zwitter haben sich in der Evolution ja nur deshalb durchgesetzt, weil ihr optimaler Reproduktionserfolg die Arterhaltung gewährleistet: Nehmen wir an, Sie wären ein männlicher Bandwurm, der zufällig in den Darm eines Säugetieres gelangt. Wie lange wollen Sie warten, bis ihr weibliches Pendant ebenfalls dort auftaucht? Die Chancen stehen nicht gerade gut. So sind im Laufe der Evolution die Organismen bevorzugt worden, die beide Geschlechtsorgane ausgebildet haben und damit vom Zufall unabhängig sind. Die eigentliche Fortpflanzung jedoch erfolgt auch bei Zwittern binär, also zweigeschlechtlich. 

Einige Hermaphroditen, wie Zwitter auch genannt werden, können ihr Geschlecht allerdings wechseln – auch kein drittes Geschlecht?

Klein: Nein. Bezüglich Geschlechtsumwandlung bei Hermaphroditen wird oft die Pantoffelschnecke angeführt, deren Männchen sich zu Weibchen wandeln können. Dieser Prozeß ist aber nicht beliebig, sondern folgt dem evolutionären Ziel, einen Beitrag zur Vergrößerung des Genpools zu leisten. Nach der binären Befruchtung schlüpfen Larven, die mobil und männlich sind. Finden sie Weibchen, setzen sie sich auf diese und können dort mehrere Jahre bleiben. Finden sie keine, können sie sich zu Weibchen entwickeln, besonders dann, wenn ein anderes Männchen sich auf sie setzt. Setzt sich nun ein weiteres Männchen auf das so entstandene Hörnchen, entwickelt sich das untere Männchen innerhalb von sechzig Tagen zu einem Weibchen. So erhöhen die Tiere ihre Chance, zur Paarungszeit einen Partner in unmittelbarer Nähe zu haben.

Also ist die Behauptung, es gäbe mehr als zwei Geschlechter zu vergleichen mit der, die Erde sei eine Scheibe, wie der Evolutionsbiologe Axel Meyer sagt?  

Klein: Ja, wenn die Aussage sich auf das biologische Geschlecht bezieht – und anscheinend soll sie das –, ist dieser Vergleich meines Kollegen auf Cicero-Online völlig richtig. 

Es werden in der Debatte aber immer wieder Beispiele genannt, die belegen sollen, daß im Tier- und Pflanzenreich eine hohe geschlechtliche Diversität herrscht. 

Klein: Selbstverständlich hat sich durch die Evolution eine hohe Diversität an geschlechtlicher Fortpflanzung gebildet. Die aber gewährleistet, daß stets zwei unterschiedliche Keimzellen verschmelzen. Es bleibt also trotz allem bei zwei Geschlechtern.

Ein Vergleich all dieser Spielarten mit Transsexuellen wie Kim de l’Horizon ist also nicht möglich?

Klein: Ein Vergleich mit Transgenderpersonen ist absurd und zudem völlig unnötig. Denn eine Pantoffelschnecke kann weder durch individuelle Befindlichkeit noch durch sozialen Diskurs ihr Geschlecht ändern. Transgenderpersonen dagegen sind Menschen, die sich nicht mit ihrem angeborenen Geschlecht identifizieren und das Empfinden haben, im „falschen Körper“ zu sein. Das ist etwas ganz anderes. Allerdings sollte es ernst genommen und nicht, wie im Fall Kim de l’Horizon, angefeindet werden. Die Queer-Community selbst erweist der berechtigten Akzeptanz von Transgender-Personen durch ihre Leugnung der biologischen Faktenlage jedoch einen Bärendienst.

Aber selbst der Beauftragte der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller Vielfalt, der Grüne Sven Lehmann, vertritt die Auffassung: „Welches Geschlecht jemand hat, kann kein Arzt von außen attestieren.“ 

Klein: Herr Lehmann ist weder in den Naturwissenschaften, erst recht nicht in den Biowissenschaften und auch nicht in der Medizin in Forschung und Lehre ausgewiesen, ja er hat es nicht einmal studiert. Es ist schon mehr als bemerkenswert, wenn Spitzenpolitiker ohne jegliche Fachkenntnisse sich zu solchen Äußerungen hinreißen lassen. Für den Beauftragten der Bundesregierung ist das Geschlecht nur eine Annahme, keine biologische Tatsache, wie man in der Welt lesen konnte. Herr Lehmann habe offenbar den Grundkurs Biologie verpaßt und daß es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt, bestätigte zudem die renommierte Biologin und Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard in der Zeitschrift Emma. 

Wie kann es dann sein, daß immer wieder der Eindruck erweckt wird, es sei wissenschaftlich erwiesen, daß mehr als zwei Geschlechter existieren? 

Klein: Es ist unbedingt erforderlich, Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft mit ihrer unterschiedlichen Generierung von Wissen zu unterscheiden. Naturwissenschaft arbeitet in der Regel experimentell-analytisch, ihre Ergebnisse sind jederzeit reproduzierbar. Dagegen bauen die in der Sozialwissenschaft teils zwangsweise beheimateten Gender-Studies ihr Denkgebäude auf Theorien auf, die meist ideologisiert vorgetragen werden. Mit empirischer Wissenschaft hat das nichts zu tun.

Was ist dann davon zu halten, daß im Sommer bekanntlich der Vortrag einer Biologin, „die glaubt, daß es zwei Geschlechter gibt“, so der öffentlich-rechtliche SWR, von der Berliner Humboldt-Uni abgesagt wurde?

Klein: Das Verhalten der HU war ein Armutszeugnis. Nicht nur für diesen Hochschulstandort, sondern generell für die deutsche Hochschullandschaft, da es kein Einzelfall gewesen ist. 

Die betreffende Biologin meint, daß hinter den Attacken auf sie und die Zweigeschlechtlichkeit wohl nur ein Mißverständnis stehe: Nämlich, daß biologisches und soziales Geschlecht verwechselt würden. Also alles nur ein eigentlich harmloser Irrtum?

Klein: Leider beruht diese durchaus einleuchtende Interpretation ihrerseits auf einem Mißverständnis: In Deutschland hat sich innerhalb der verschiedenen Ansätze der Queer-Theorie die dekonstruktivistische Geschlechterforschung Judith Butlers – genannt Gender-Studies – durchgesetzt, welche die binäre Zweigeschlechtlichkeit ebenso radikal in Frage stellt wie die feministische Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht. Vielmehr unterliege das Geschlecht durch kulturelle Denksysteme, Herkunft, Machtstrategien und Sprachregeln ständiger Veränderung. 

Aber warum droht die Gegenseite immer wieder und ist nicht an einer Entschärfung interessiert?

Klein: Weil aktivistische Ideologien keine Kritik erlauben und jede Art Diskussion unterbinden. Die Ideologie der Gender-Studies ignoriert die naturwissenschaftliche Wissensgenerierung nahezu völlig. Nach ihrer Ansicht sei insbesondere die naturwissenschaftliche Faktenlage patriarchalisch entstanden. Daher müsse sie dekonstruiert und in feministischem Sinne umgedeutet werden. Entsprechend heißt es aktuell in den Gender-Curricula Biologie des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW: „Auf biologieinterner Ebene wird die biologische Praxis und Theoriebildung durch biologisches Fachpersonal methodenkritisch daraufhin überprüft, ob durch einen androzentrischen beziehungsweise sexistischen Bias naturwissenschaftliche Methodenstandards derart verletzt werden, daß nach einer sorgfältigen Revision des bisherigen Forschungsstandes eine Neuformulierung von biologischen Hypothesen und Theorien oder ganz neue biologische Studien nötig werden.“ Von soviel Unfug bekommt ein Biologe Schnappatmung! Ach ja, „Bias“ heißt übrigens „Vorurteil“.

Verfügen die Gender-Studies denn überhaupt über die notwendigen Kompetenzen?

Klein: Natürlich nicht. Niemand des im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung aufgeführten Fachpersonals ist in Forschung und Lehre der Biowissenschaften ausgewiesen. Die Gender-Studies konnten bis heute keinerlei empirisch belastbare Beweise für ihre teils abstrusen Theorien präsentieren. Daher bezeichnen führende Evolutionsbiologen sie als universitäre Pseudowissenschaft und vergleichen sie mit dem Kreationismus. Wie dieser leugnen auch sie grundlegende naturwissenschaftliche und vor allem biowissenschaftliche Fakten.

Wenn empirische Fakten im Sinne einer Ideologie umgedeutet werden, ist dann nicht die Wissenschaft insgesamt in Gefahr?

Klein: Diese ist längst unterwandert, und da sich die Gender-Studies als übergeordnete Metadisziplin verstehen, sitzen ihre Vertreter sozusagen als Wächterrat selbst in Berufungsverhandlungen. Sie haben de facto ein Vetorecht und können also verhindern, daß ihnen unliebsame Bewerber eine Professur erlangen! Damit höhlen sie das Leistungsprinzip aus, indem sie, ähnlich wie in der Politik, Gruppenzugehörigkeit als Auswahlkriterium durchsetzen wollen.

Ist all das auf den akademischen Bereich beschränkt?

Klein: Keineswegs. Das oben genannte Netzwerk hat neben Bachelor/Master-Studiengängen bereits alle Fachdidaktiken okkupiert – teilweise gegen deren Willen. So wird auch auf die Lehrerausbildung Einfluß genommen. Adressat sind also Kinder und Jugendliche, die so ideologisch geschult werden sollen. Auch der Öffentlichkeit wird zunehmend ein Verhaltenskodex auferlegt, der von extremen Minderheiten und deren Befindlichkeiten geprägt wird. 

Wie ist die Stimmung unter ihren Kollegen? Gibt es denn keinen Widerstand? 

Klein: Ein befreundeter ostdeutscher Ex-Kollege hat das derzeitige Uni-Klima mit den Worten auf den Punkt gebracht: „Wie in der DDR – nur mit Bananen.“ Die Älteren murren, die Jüngeren sind weitgehend angepaßt. Was bleibt ihnen auch anders übrig? Ihre Besoldung ist teilweise drittmittelabhängig. Und Drittmittel, also Geld für eigene Forschung, bekommt nur, wer dem Mainstream folgt.

Macht sich Angst breit? Fühlt man sich überwacht?

Klein: Dank der Gender-Studies kann selbst an Universitäten nicht mehr von Diskurs gesprochen werden, stattdessen geht es um die Durchsetzung ihrer Überzeugungen durch ein Klima der Verängstigung und Verdächtigung gegenüber Andersdenkenden. Kritiker etwa werden in Vorlesungen gezielt ausfindig gemacht, denunziert oder sogar handgreiflich bedroht. Selbst vor der Zerstörung der beruflichen und persönlichen Integrität schrecken ihre Vertreter nicht zurück. 

Die „FAZ“ berichtete unlängst unter der Überschrift „Ende einer Treibjagd“ von einer Wirtschaftsjuristin der Universität Lüneburg, die sich einer Rufmordkampagne gegenübersieht, weil sie die Bedeutung der körperlichen Unterschiede von Mann und Frau als grundlegend für das internationale Recht erachtet.

Klein: Das ist nur einer von vielen Fällen, die das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit aufgedeckt hat. Er zeigt einmal mehr, wie Trans-Aktivisten mit Cancel-Culture-Methoden vorgehen. Und obwohl dabei massiv Persönlichkeitsrechte verletzt werden, findet weder eine exekutive noch juristische Aufarbeitung der Fälle statt. Das läßt einen schon verblüfft zurück. Bekanntheit erlangte die Philosophie-Professorin Kathleen Stock an der Universität Sussex, die, obwohl Feministin, sich und ihre Familie mit öffentlichen Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen konfrontiert sah, nur weil sie das binäre Prinzip biologischer Geschlechtlichkeit verteidigt hatte.

Sie sind auch Mitglied im „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“. Kann man denn von einer Freiheit der Wissenschaft überhaupt noch sprechen? 

Klein: Nein, die existiert nur noch in schönen Sonntagsreden. Diese äußerst bedenkliche Entwicklung war ja der Grund für die Gründung des Netzwerks 2021, dem mittlerweile über 700 Wissenschaftler angehören. Zweck ist unter anderem, solche Fälle öffentlich zu machen und den Betroffenen beratend zur Seite zu stehen. Denn die Hochschulleitungen sehen sich auf Druck der Aktivisten dazu außerstande.

Wie wirkt sich das auf den Wissenschaftsstandort Deutschland und unsere wichtigste nationale Ressource, die Bildung, aus?

Klein: Das deutsche Bildungssystem befindet sich in einer Abwärtsspirale. Das weist auch der gerade veröffentlichte IQB-Bildungstrend 2022 eindeutig nach. Die Aushöhlung der Freiheit der Wissenschaft und des Leistungsprinzips in Schulen und zunehmend auch Hochschulen führen zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Die Auswirkungen sind schon überall zu spüren. Kein Wunder, schließlich bekommen Jugendliche vor Augen geführt, daß man auch ohne Hochschulstudium, ja ohne jede Ausbildung, nur durch Gruppenzugehörigkeit Spitzenämter in der Politik erreichen kann. Das grundlegende Prinzip Aufstieg durch Bildung und Ausbildung wird so mit Füßen getreten. Und daß der Deutsche Buchpreis an jemanden verliehen wird, der sich als non-binär sieht, paßt natürlich wunderbar in den links-identitären Zeitgeist, der nicht einmal vor biologischen Fakten haltmacht. Die entscheidende Frage ist, wieviel Inkompetenz kann sich ein Land leisten? Diese Entwicklung fügt dem Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland jedenfalls langfristig schweren und irreversiblen Schaden zu. 






Prof. Dr. Hans Peter Klein, ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften und hatte bis 2019 den gleichnamigen Lehrstuhl an der Goethe-Universität Frankfurt inne. Zuvor lehrte er in Köln, Koblenz und den USA. Öffentlich meldet sich der 1951 in Sinzig am Rhein geborene Zellbiologe immer wieder zu Wort, so in der FAZ, Zeit, Welt, NZZ oder im Deutschlandfunk. 

Foto: Erfolgsautor Kim de l’Horizon: „Es bleibt trotz allem bei zwei Geschlechtern“