© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Wieder am Limit
Asylkrise: Der Zustrom an Flüchtlingen und Migranten reißt nicht ab / Die Belastungsgrenze der Kommunen ist längst überschritten / Warnungen vor neuem „2015“
Peter Möller

Die Zahlen sind eindeutig: In diesem Jahr sind bereits mehr als 1,1 Millionen Menschen als Flüchtlinge und Asylbewerber nach Deutschland gekommen. Die Flüchtlingskrise ist mit aller Macht zurück. Daß sie bislang in Öffentlichkeit und Politik nicht die gleiche Aufmerksamkeit bekommt wie 2015/16 liegt allein an den anderen Krisen, mit denen das Land zu kämpfen hat. Doch das ändert sich nun langsam, denn die Grenzen der Aufnahmefähigkeit sind auf vielen Gebieten erreicht.

Bis Anfang Oktober hatten die Behörden gut eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland registriert. Im gleichen Zeitraum kamen nach Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gut 130.000 Ausländer, die erstmals einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben. Das ist rund ein Drittel mehr als im Vorjahreszeitraum (JF 43/22).

Und von Entwarnung kann auch mit Blick auf die letzten Monate des Jahres keine Rede sein. Im Gegenteil: Mit dem nahenden Winter wächst die Befürchtung, daß die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine wieder deutlich anwachsen könnte, insbesondere seitdem Rußland gezielt die Strom-, Wärme- und Wasserversorgung des überfallenen Nachbarlandes angreift. 

Gleichzeitig steigt seit Wochen die Zahl von Asylbewerbern etwa aus Syrien und Afghanistan, die vor allem über die wiederbelebte Balkanroute kommen, deutlich. Zudem wird befürchtet, daß  bei einer Zuspitzung der politischen Situation in Rußland auch von dort mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, etwa politische Oppositionelle oder Männer, die angesichts der Teilmobilmachung nicht für das Regime in den Krieg ziehen wollen. Dies könnte hierzulande zu Spannungen insbesondere mit Ukrainern führen.

Viele Städte und Kommunen haben mittlerweile die Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit erreicht. „Ich bin mit den Kommunen in sehr engem Kontakt, die Unterbringungssituation ist angespannt“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser der Bild am Sonntag. Doch viel mehr als die Zusage, mehr bundeseigene Immobilien für die Unterbringung zur Verfügung zu stellen, hat Faeser bislang nicht zu bieten.

Besonders kritisch ist mittlerweile die Lage in Berlin, dessen rot-rot-grüner Senat bereits seit Jahren ohne Rücksicht auf Kapazitätsgrenzen gegenüber Migranten eine Politik der offenen Tür betreibt und sich nun mit den Folgen konfrontiert sieht. Angesichts der immensen Zahlen vor allem durch den Zuzug von Flüchtlingen aus der Ukraine habe die Hauptstadt ihre Kapazitäten „nahezu ausgeschöpft“, sagte die regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Von den in den vergangenen Monaten erst neu geschaffenen rund 6.000 Plätzen für die Unterbringung sind die meisten bereits wieder belegt. Berlin hat mit insgesamt 27.700 Unterbringungsplätzen für Flüchtlinge derzeit so viele wie noch nie. „Die Situation ist enorm schwierig“, sagt Integrationssenatorin Katja Kipping (Linke). Die Lage auf dem ohnehin schon prekären Wohnungsmarkt in der Hauptstadt verschärft sich durch den anhaltenden Zuzug weiter. In diesem Jahr seien bereits 340.000 Ukrainer in der Hauptstadt erstversorgt worden, 100.000 davon seien dort geblieben. „Wir brauchen dringend weitere Immobilien des Bundes, um Menschen gut unterzubringen“, forderte Giffey. Zudem sei „finanzielle Unterstützung für die immensen Kosten und eine gerechte Verteilung im Bundesgebiet“ notwendig.

Ähnlich dramatisch ist die Lage in Leipzig. Dort entstehen zwei Zeltstädte für knapp 440 Menschen, um das Unterbringungsproblem zu lösen. Als nächstes seien dann Turn- und Messehallen an der Reihe, teilte die Verwaltung mit. In Sachsen ist die Flüchtlingssituation besonders angespannt, da über die Grenze zu Polen und Tschechien zahlreiche Migranten kommen, die über die Balkanroute gereist sind.

Landrat warnt vor falschen Anreizen für Flüchtlinge

Während die Dresdner Bundespolizei-Inspektion im Juli noch 500 Flüchtlinge registrierten, waren es im August bereits über 1.200 – im September kamen doppelt so viele. Vor allem Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan kommen über die reaktivierte Balkanroute, darunter viele junge Männer im Alter von 15 bis 25 Jahren. Experten verweisen indes darauf, daß derzeit immer noch wesentlich weniger Menschen über die Balkanroute kommen als in den Jahren 2015/16. Mit bislang rund 87.000 Flüchtlingen über die Balkanroute waren es aber bereits dreimal so viele wie 2021.

Daher hat die Bundesregierung in den vergangenen Wochen ihre Bemühungen verstärkt, die illegale Einwanderung über Polen, Tschechien und Österreich einzudämmen. Mit mehreren Staaten des Westbalkan vereinbarte Innenministerin Faeser in der vergangenen Woche Maßnahmen für einen besseren Grenzschutz. So ist unter anderem vorgesehen, die Visapolitik an die europäischen Standards anzugleichen. Auch gelte es, den Grenzschutz durch den unterstützenden Einsatz von Frontex zu stärken. „Wir wollen die Menschen schützen, die vor Kriegen und politischer Verfolgung zu uns fliehen“, sagte Faeser. Zugleich werde man auch entschieden gegen illegale Migration und gegen Schleuserkriminalität vorgehen, damit Menschen nicht auf lebensgefährliche Fluchtrouten geschickt würden.

Auch wenn die Bundesregierung nachdrücklich darauf verweist, daß sich die Ursachen für den starken Anstieg der Flüchtlingszahlen ihrem Einfluß entziehen: Teilweise sind die Probleme für den massiven Zuzug nach Deutschland hausgemacht. So warnte am Montag der Präsident des Landkreistags, der Tübinger Landrat Joachim Walter, vor falschen Anreizen für Flüchtlinge aus der Ukraine, die schon sichere Unterkünfte in anderen EU-Ländern wie Polen oder Spanien gefunden haben. „Diese ungesteuerte sekundäre Migration muß in der Tat unterbunden werden“, sagte Walter und verwies auf die fast erschöpften Aufnahmekapazitäten und die nachlassende Akzeptanz in der Bevölkerung. Als Problem bezeichnete er den sogenannten Rechtskreiswechsel für ukrainische Flüchtlinge. Diese sind seit dem 1. Juni Hartz-IV-Beziehern gleichgestellt und können sich somit eine eigene Wohnung mieten und eine Arbeit aufnehmen. Nach Angaben des Landkreispräsidenten habe dies eine starke Anziehungskraft auf Ukrainer, nach Deutschland zu kommen.

In diese Richtung zielte auch die vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz angestoßene Diskussion über den „Sozialtourismus“ ukrainischer Flüchtlinge. Merz wurde dafür scharf angegangen, da er keine Zahlen präsentieren konnte. Doch in Berlin heißt es hinter vorgehaltener Hand: Nur weil das Problem in den offiziellen Statistiken nicht auftaucht, bedeutet das nicht, daß es nicht existiert.

Widersprüchliche Signale sendet Berlin zudem damit aus, daß man ungeachtet der steigenden Asylbewerberzahlen am sogenannten Chancen-Aufenthaltsrecht festhält. So sollen „gut integrierte junge Menschen unter 27 Jahren schon nach drei Jahren ein Bleiberecht“ bekommen, außerdem gebe man denen, die seit mindestens fünf Jahren geduldet in Deutschland leben, für ein Jahr das Aufenthaltsrecht. Damit werde die Politik endlich der Tatsache gerecht, daß Deutschland „ein vielfältiges Einwanderungsland“ sei, freute sich die Bundesinnenministerin.

Erschüttert zeigte sich Faeser indes angesichts der abgebrannten Unterkunft für ukrainische Flüchtlinge in Groß Strömkendorf bei Wismar in Mecklenburg-Vorpommern. Sollte es sich um einen politische motivierten Anschlag handeln, werde der „Rechtsstaat mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln hart durchgreifen“, kündigte sie vergangene Woche bei einem Besuch vor Ort an. Auch weil am Gebäude Hakenkreuz-Schmierereien gefunden wurden, wird ein politisches Motiv nicht ausgeschlossen, der Staatsschutz ermittelt. 

Nach Angaben der Polizei gab es in der Nacht zwei Feuer in der Flüchtlingsunterkunft. So sei es den Anwohnern und Angestellten gelungen, das erste Feuer noch vor Eintreffen der Feuerwehr zu löschen. Nach Eintreffen der ersten Löschzüge sei es dann zu einem weiteren Brand gekommen. Da es sich um ein Reetdach handelt, seien Glutnester ein möglicher Grund für das Wiederaufflammen, sagte eine Polizeisprecherin der JUNGEN FREIHEIT. Endgültige Klarheit soll das Brandursache-Gutachten der Feuerwehr bringen, mit dem die Ermittler in den kommenden Tagen rechnen.