© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Ländersache: Baden-Württemberg
Kommunal-König Boris
Christian Vollradt

Die absolute Mehrheit schon im ersten Wahlgang: Boris Palmer ist eine Sensation gelungen. Der 50jährige kann seine dritte Amtszeit als Oberbürgermeister von Tübingen im Januar antreten. Und das, obwohl – oder weil? – er als Parteiunabhängiger sogar in Konkurrenz zu seinen Noch-Parteikollegen von den Grünen angetreten ist. 

Auf dem pittoresken Marktplatz der Stadt am Neckar, vor dem markanten Rathaus mit seiner reich verzierten Fassade feierten der Amtsinhaber und Hunderte seiner Anhänger am vergangenen Sonntag das Ergebnis: 52,4 Prozent der Stimmen holte Palmer – und damit auf Anhieb mehr als seine beiden Herausforderinnen zusammen, die grüne Ulrike Baumgärtner (22 Prozent) und SPD-Kandidatin Sofie Geisel (21,4 Prozent). Eine Beteiligung von über 60 Prozent ist bei einer Kommunalwahl zudem rekordverdächtig hoch. 

Palmer kann nach 16 Jahren im Amt auf eine erstaunlich gute Bilanz verweisen: Die Stadt steht wirtschaftlich und finanziell gut da. Und mit dem „Tübinger Weg“ nach dem Motto: soviel Schutz wie nötig und soviel Normalität wie möglich, kam die  90.000-Einwohner-Stadt besser als andere durch die Pandemie. Zum wahrscheinlich deutschlandweit bekanntesten Oberbürgermeister mit Talkshowauftritten, Buchveröffentlichungen und Gastbeiträgen in großen Zeitungen wurde Palmer spätestens mit seinen kritischen Einlassungen zu den Folgen der Asylkrise 2015 („Wir können nicht allen helfen“) oder polemischen Bemerkungen zur linken Identitätspolitik, für die ihn manche in der eigenen Partei sogar einer Nähe zur AfD ziehen.

Daß das Ziel, Tübingen bis 2030 „klimaneutral“ zu machen, bei der urgrünen Klientel der Universitätsstadt ankommt, kann nicht verwundern. Doch der OB punktete eben auch bei anderen, deutlich konservativeren Bürgern; und zwar mit Positionen, die vielen Grünen-Wählern eher gegen den Strich gehen dürften. So empörte sich Palmer besipielsweise über Graffiti-Sprayer, die Teile der historischen Stadtmauer beschmiert und verunstaltet hatten. Auch bezog das Stadtoberhaupt deutlich Stellung gegen die – letztlich verhinderte – Umbenennung der Eberhard-Karls-Universität, an der Palmer sein Geschichts- und Mathematikstudium absolviert hatte.    

Rückenwind verschaffte Palmer nicht zuletzt die öffentlichkeitswirksame Unterstützung von Teilen der Stadt-Prominenz, die parteiübergreifend für den Amtsinhaber warb und sein Wahlkampf-Säckel füllte. Ohne direkt zu seiner Wahl aufzurufen, förderte zudem die CDU seine Wiederwahl, allein schon durch die Tatsache, daß sie diesmal keinen eigenen Kandidaten aufstellte. 

Dabei können die Wähler offensichtlich trennen zwischen grundsätzlicher Zustimmung und blinder Gefolgschaft. So scheiterte vor einem Jahr bei einem Bürgerentscheid Palmers ambitionierter Plan, die regionale Neckaralb-Bahn durch die Tübinger Innenstadt fahren zu lassen. Bei zusätzlichen Investitionen in Höhe von rund 230 Millionen Euro zogen die Schwaben eine rote Linie.

Die Mitgliedschaft des Rathauschefs bei den Grünen ruht derzeit. Kritik an seinem dort auf wenig Gegenliebe stoßenden Stil kann Palmer unter Verweis auf das Wählervotum vom Sonntag kontern.