© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Im Angesicht der Zerstörung
JF-Reporter in Donezk: Die Hauptstadt der selbsternannten Volksrepublik steht seit 2014 immer wieder unter Beschuß. Die Lage in der Stadt ist verzweifelt
Luca Steinmann

Kubitschevsky ist der letzte Bezirk im Westen der Stadt Donezk, der aus vielen gleichartigen Häusern mit spitzen Dächern und einem kleinen Vorgarten besteht. Vor der Tür eines dieser Häuser weint eine junge Frau, während sie mit einem Lappen einen großen Blutfleck abwischt, den ihr Vater hinterlassen hat. Wenige Stunden zuvor saß der 66jährige Mann auf der Veranda, als ein Mörserschuß auf ihn niederging und ihn auf der Stelle tötete. Der Schuß kam aus Marinka, das einige zig Kilometer weiter liegt und von der ukrainischen Armee kontrolliert wird.

In der Einfahrt vor dem Haus kreischt eine Gruppe von Frauen in die absolute Stille, einige umarmen einander. „Die Ukrainer bombardieren uns mindestens einmal am Tag“, schreit eine von ihnen, „das ist kein Leben mehr“. Der Klang ihrer Stimme wird plötzlich von Schüssen unterbrochen. Ein Stück weiter haben sich russische Soldaten hinter einem anderen Haus versteckt und feuern vom Hof aus Mörsergranaten in Richtung Marinka. Die Frauen rennen schnell ins Haus. In der Nachbarschaft schauen einige aus dem Fenster, andere leben weiter, als wäre nichts geschehen. Nur wenige brechen zusammen. Diese Szenen spielen sich in Kubitschevsky jeden Tag ab.

Einige hatten gehofft, die Grenze würde schnell westlich wandern

Diejenigen, die die Folgen des Krieges in der Ukraine zu tragen haben, sind hauptsächlich die einfachen Leute, die Zivilbevölkerung. Nicht nur werden die Bewohner der von der Kiewer Armee kontrollierten Gebiete von russischen Bomben getroffen, sondern auch die Bevölkerung des Donbass ist dem ständigen ukrainischen Beschuß ausgesetzt. In vielen Städten dieser Region leben die Bürger in unterirdischen Bunkern, ohne Wasser, Strom und Heizung. Einige von ihnen hatten gehofft, daß die „spezielle Militäroperation“ die Frontlinie, an der sie seit 2014 leben, schnell nach Westen verlegen würde. Stattdessen führten die Schwierigkeiten der Roten Armee (wie sie immer noch genannt wird) zu einer massiven Bombardierungskampagne der ukrainischen Armee auf eine Reihe von Städten im Donbass, insbesondere Donezk. Mit Dutzenden von Toten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung.

Kiewer Truppen beschießen Donezk aus nächste Nähe

Die Frontlinie verlagert sich nicht, zumindest im Moment. Und nicht nur das. Während in den Gebieten, die direkt an die ukrainisch verwalteten Dörfer angrenzen, der Beschuß seit dem 24. Februar (aber gelegentlich auch schon vorher) nie länger unterbrochen wurde, hat die ukrainische Artillerie in den letzten Wochen begonnen, Gebiete, die zuvor als sicher galten, wie das Zentrum von Donezk, schwer zu beschießen. Hier sind viele Geschäfte geschlossen, die Straßen sind fast menschenleer. Die wenigen Passanten, die umherlaufen, gehen schnell, um nicht dem Feuer ausgesetzt zu sein. Die weite Stille wird von Zeit zu Zeit durch Explosionen unterbrochen: Auf einige folgt ein Pfeifen, das allmählich verklingt, ein Zeichen dafür, daß es sich um eine Artilleriegranate der Russen handelt, die die Stadt kontrollieren. Wenn erst der Pfiff, dann der Knall und schließlich das Beben des Bodens zu hören ist, dann bedeutet das, daß die Rakete von den ukrainischen Stellungen im angrenzenden Land abgefeuert wurde und in der Stadt eingeschlagen ist.

Eine hohe, dichte schwarze Rauchwolke steigt plötzlich aus dem Stadtzentrum auf. Eine ukrainische Rakete hat das an der Hauptstraße gelegene Rathausgebäude getroffen. Hunderte von Menschen eilen zu den Trümmern: Soldaten in grünen Uniformen mit den Symbolen der Russischen Föderation darauf, Arbeiter mit Schutzhelmen, Männer in Zivil, die etwas in große Funkgeräte rufen, einfache Bürger kommen, um zu sehen, was passiert ist. „Die Rakete wurde von Avdievka aus abgefeuert“, sagt einer von ihnen und deutet nach Norden, „die Ukrainer sind nur fünf Kilometer entfernt“.

Seit 2014 ist Donezk von der ukrainischen Armee halb umzingelt. Die Dörfer, die das Stadtgebiet im Norden und Osten umgeben, befinden sich in der Hand der Kiewer Truppen, die somit die gesamte Stadt unter Beschuß nehmen können. Seit letztem Sommer versucht die russische Armee, die feindlichen Linien in der Nähe der Dörfer Pesky und Marinka zu durchbrechen, konnte aber keine nennenswerten Fortschritte erzielen. Seit Juli feuern die Ukrainer ununterbrochen schwere Artilleriegranaten auf die Stadt und treffen dabei sowohl militärische als auch zivile und dicht besiedelte Ziele: der Hauptplatz, der zentrale Markt, das größte Einkaufszentrum und die beiden wichtigsten Hotels von Donezk wurden getroffen. Es gibt keine offizielle Zahl der zivilen Opfer, aber einige Dutzend sind bekannt.

In der Stadt leben die Menschen in Angst. „Seit acht Jahren bombardiert uns die ukrainische Armee. Wie können sie von uns verlangen, wieder unter ihnen zu leben?“, sagt Pavel (30) der seinen Schwiegervater bei einem Bombenangriff im März verloren hat. Sie gingen gemeinsam in die Bank, als Pavel bemerkte, daß er etwas im Auto vergessen hatte und zurückging. Eine von der ukrainischen Armee abgefeuerte Rakete wurde von der russischen Flugabwehr abgefangen und explodierte in tausend Splitter, die die Passanten niedermetzelten. Der Schwiegervater war sofort tot, ebenso wie 21 weitere Personen.

Die Lebensbedingungen für die Bürger sind nicht nur wegen der Bomben schwierig, sondern auch wegen des Fehlens von fließendem Wasser, von Gas und funktionierenden Heizungen, insbesondere angesichts des kalten Winters. Bei den Kämpfen wurden Wassertanks getroffen. Es ist nicht klar, wer es getan hat. Russische Streitkräfte als auch die ukrainische Armee beschuldigen sich gegenseitig. Sicher ist nur, daß die Bürger nun keine mehr haben. Die wenigen Menschen, die sich auf den Straßen versammeln, ringen sich um Lieferwagen, die Wasser verteilen. Hier stehen Dutzende von Menschen an, um Kanister und Krüge zu füllen, damit sie sich waschen können und damit sie Essen kochen können. In den Wäldern rund um die Stadt gehen Gruppen von Menschen spazieren, um Holz zu sammeln, das sie dann auf den Treppenabsätzen der Wohnblocks aufstapeln, damit jeder es nutzen kann.

Viele hoffen hier auf ein baldiges Ende der Kriegshandlungen

Diese Situation führt natürlich zu einer starken Unzufriedenheit unter den Bürgern: in erster Linie gegen die Ukrainer, aber es gibt auch diejenigen, die die russischen Behörden dafür kritisieren, daß sie sie vergessen haben und das Volk für die schlimmsten Folgen der Invasion in der Ukraine bezahlen lassen. Bei anderen rührt das Mißtrauen vor allem auch daher, daß die russische Armee in den letzten Wochen mehrere Niederlagen erlitten hat und die Eroberung des gesamten Donbass durch Moskaus Truppen weiter entfernt scheint als je zuvor.






Luca Steinmann, 32 Jahre alt, ist ein italienisch-schweizer Journalist, Kriegsreporter und geopolitischer Analyst. Er erhielt im September den „Premiolino“, den ältesten und einen der wichtigsten italienischen Journalistenpreise für seine Reportagen aus verschiedenen Krisengebieten

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