© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Im Chaos versunken
Großbritannien: Liz Truss tritt als britische Premierministerin zurück / Rishi Sunak soll das Ruder bei den Tories herumreißen
Julian Schneider

Tragödie oder Farce? In jedem Fall zeigt es Züge eines absurden Theaterstücks, was die britischen Konservativen in den vergangenen Wochen aufgeführt haben. Premierministerin Liz Truss, die erst im September in einem Mitgliederentscheid gekürt worden war, trat nach nur 45 Tagen zurück. Ihr wurden die Marktturbulenzen rund um ihren schuldenfinanzierten Steuersenkungskurs zum Verhängnis. Gedemütigt gab sie auf. Nun haben die Tories im Schnellverfahren einen Nachfolger bestimmt; es ist schon der dritte Premier in diesem Jahr. Rishi Sunak, der ehemalige Finanzminister, der im Sommer gegen Truss unterlegen war, macht jetzt das Rennen. Der 42jährige schwerreiche Ex-Investmentbanker konnte sich Anfang dieser Woche in der fraktionsinternen Nominierung durchsetzen. Nur Sunak sprang deutlich über die Hürde von hundert Unterstützungsunterschriften. Die geplante Mitgliederstichwahl fiel damit aus.

Am Ende ist der Rückhalt für Boris Johnson nicht stark genug

Zuvor gab es abermals ein Drama um Ex-Premier Boris Johnson, der eilends aus einem Karibikurlaub zurückgeflogen war, um die Macht in London wieder an sich zu reißen. Johnson witterte die Chance auf ein schnelles Comeback in der Downing Street, nachdem er erst im Juli als Premierminister zurückgetreten war. Unter den Tory-Mitgliedern gibt es trotz aller Partygate-Affären einen starken Boris-Fanclub. Doch viele Briten zeigen sich inzwischen angewidert von den Chaostagen der Tories.Die politische Linke kann sich indes kaum noch halten vor Freude.

Die Lage der Tory-Partei ist verzweifelt schlecht. In Umfragen ist sie bis auf etwa 20 Prozent abgestürzt und liegt damit mehr als 30 Prozentpunkte hinter der Labour-Partei, die über 50 Prozent gestiegen ist. Bliebe es bei diesem Rückstand, dann droht den Tories wegen des Mehrheitswahlrechts eine regelrechte Vernichtung bei der nächsten Parlamentswahl, die regulär Ende 2024 ansteht. Sie könnten von ihrer aktuellen großen Mehrheit mit rund 360 Sitzen auf wenige Dutzend, auf den Status einer Kleinpartei fallen. Die Partei schaue in einen Abgrund, befand der Ex-Vorsitzende Iain Duncan Smith.

Johnson hat sich verrechnet. Auch wenn an der Parteibasis viele noch für „Boris“ Sympathien haben, der Widerstand gegen ihn war stärker. William Hague, ein früherer Tory-Vorsitzender, versprach eine „Todes-Spirale“ bei einer Rückkehr Johnsons. Auch auf dem dezidiert rechten Flügel grauste es manche bei der Vorstellung, der Gescheiterte würde nochmal in die Downing Street einziehen. Allerdings machten sich doch mehrere Minister, allen voran der konservative Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg, für Johnson stark. Am Ende zog er selbst die Reißleine. Er könne „nicht effektiv regieren, wenn er keine vereinte Partei im Parlament“ hinter sich habe.

Ohne Zweifel ist die Partei nach den Johnson- und Truss-Turbulenzen nun deutlich gespalten. Liz Truss hat annähernd einen Totalschaden für die Partei erzeugt. Die von ihr versprochenen Steuersenkungen begeisterten zwar die Parteibasis, doch die enormen ungedeckten Schecks, die ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng dafür auszustellen ankündigte, verschreckten die Finanzmärkte. Labourchef Keir Starmer spottete über das „Kamikaze-Budget“. Auch der panikartige Austausch des Finanzministers – Kwarteng wurde durch Jeremy Hunt ersetzt, der den Steuersenkungskurs komplett revidierte –, sorgte nicht mehr für Beruhigung. Schließlich feuerte Truss noch die einwanderungskritische Innenministerin Suella Braverman wegen des Verschickens von Regierungsdokumenten über eine private Mailadresse. Truss versank in kürzester Zeit im Chaos, wozu auch unerfahrene Berater und eine überforderte Fraktionsführung beitrugen. Der Spott war ihr sicher. 

Tausendfach wurde der vom Economist erfundene Witz über Truss geteilt, daß sogar ein Kopfsalat eine längere Haltbarkeit besitze als sie. Auch der Spiegel erging sich in unverhohlenem Hohn: Big Ben wurde zur Banane umgestaltet. Der neue Premier Rishi Sunak, der erste Regierungschef aus einer Einwanderungsfamilie, erbt eine geschwächte Partei und ein Land in einer schwierigen Lage mit hoher Inflation und Wirtschaftskrise. Er verspricht, „die Wirtschaft wieder flottzumachen und das Land zu einen“; er stehe für Integrität und Professionalität, sagte Sunak, der im Johnson-Lager als Verräter verhaßt ist. Zu den von Labour-Chef Starmer geforderten Neuwahlen wird es nicht kommen, weil dann Hunderte Tories ihre Sitze verlören. Aber die Uhr tickt. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird Labour in zwei Jahren die Downing Street erobern.

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