© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Hauptgewinner ist der Staat
Inflationspolitik: Im ersten Halbjahr kletterten die Staatseinnahmen auf 841,4 Milliarden Euro
Ulrich van Suntum

Am 26. April 2019 gab die Bundesbank letztmals 500-Euro-Banknoten aus, denn der EZB-Rat hatte 2016 deren Aus beschlossen. Damals ahnte niemand, daß man den größten Euroschein wohl bald wieder brauchen könnte. Denn bei der aktuellen Inflationsrate von zehn Prozent halbiert sich der Geldwert in weniger als sieben Jahren: Was man heute noch für 100 Euro kaufen kann, kostet dann 200 Euro. Zwar dürften sich die abenteuerlichen Preissteigerungen wohl in diesem Tempo nicht fortsetzen. Aber selbst bei halb so hoher Inflationsrate dauert es nur 13 Jahre, bis der Euro nur noch die Hälfte wert ist. Und das sind realistische Größenordnungen. So lag die Inflationsrate im September – bei Herausrechnung der Energie- und Nahrungsmittelpreise – bereits bei 4,6 Prozent.

Zweitrundeneffekte durch das ungezügelte Geldmengenwachstum

Das liegt vor allem an der expansiven Geldpolitik der EZB. Seit der Finanzkrise 2008 hat sie ihre Bilanzsumme versechsfacht. Das reale Wirtschaftswachstum in der Eurozone nahm dagegen bis zur Corona-Krise nur um etwa 15 Prozent zu. Während der Pandemie ist es sogar wieder unter seinen Ausgangswert gesunken. So wurde ein riesiger Geldmengenüberhang geschaffen, der seitdem wie ein Damoklesschwert über der Preisniveaustabilität schwebt. Zwar beruht die aktuelle Preisexplosion vor allem auf höheren Energie- und Nahrungsmittelpreisen wegen des Ukraine-Kriegs. Anders als in den USA ist sie in der EU damit nicht nachfrage-, sondern angebotsseitig getrieben. Die Konsumenten halten sich zwar mit dem Geldausgeben zurück, aber es drohen Zweitrundeneffekte: Die Gewerkschaften verlangen mindestens den Inflationsausgleich, was die Unternehmen aber zu weiteren Preissteigerungen zwingt – das setzt Lohn-Preis-Spiralen in Gang.

Dazu kommt noch ein zweiter Effekt, den der-Ökonom Ralph Hawtrey bereits in den 1920er Jahren beschrieben hat: Unternehmen und Sparer bauen ihre Liquiditätsreserven ab, sie versuchen, in Sachwerte wie Immobilien oder auch langlebige Konsumgüter zu investieren. Das kann aber immer nur einzelnen gelingen, da das Geld danach zwangsläufig ein anderer in Händen hält. Wie eine heiße Kartoffel wird es immer schneller ausgegeben, was aber wiederum die Preise nach oben treibt. Noch ist dieser Teufelskreis des Hawtrey-Effekts nicht in Schwung gekommen, aber das ist bei anhaltender Inflation letztlich nur eine Frage der Zeit.

Die aktuellen Daten scheinen nicht zu dieser Theorie zu passen. So haben die deutschen Immobilienpreise just in dem Moment den Rückwärtsgang eingelegt, als die Inflation richtig losging. Sechs Jahre waren sie allerdings um 60 Prozent gestiegen und damit viermal so stark wie das allgemeine Preisniveau. Was wir derzeit sehen, ist vor allem die Korrektur dieser Übertreibung. Sie war auch durch das extrem niedrige Zinsniveau getrieben worden, eine weitere Folge der laschen Geldpolitik. Auch wenn die EZB bisher nur zögerlich umgesteuert hat – mit dem billigen Baugeld ist es vorbei.

Die Hypothekenzinsen liegen bei vier Prozent, was zusammen mit steigenden Neubau- und Renovierungskosten die Investoren verprellt hat. Private Häuslebauer können sich ihren Traum kaum noch leisten. Ihnen nützt auch die hohe Differenz zwischen Inflation und Zinssatz nichts. Denn auch wenn langfristig die Immobilienpreise erfahrungsgemäß immer der allgemeinen Preisentwicklung folgen: Die daraus resultierenden Gewinne stehen vorerst nur auf dem Papier, während der Kauf eines Hauses konkret bezahlt werden muß.

Es gibt aber auch einen klaren Gewinner der Inflation – den Staat. Aktuell baden vor allem die Finanzminister von Bund und Ländern regelrecht im Geld: Im ersten Halbjahr 2022 sind die Staatseinnahmen um 89,3 auf 841,4 Milliarden Euro gestiegen – ein Zuwachs von 11,9 Prozent gegenüber dem ersten Halbjahr des Vorjahres und mehr als die Inflationsrate. Die Umsatz- und Einfuhrumsatzsteuereinnahmen des Bundes stiegen um 30,4 Prozent auf 68,2 Milliarden Euro, bei den Ländern um 23,2 Prozent auf 70,1 Milliarden Euro. Zwar trug dazu maßgeblich die Belebung der Wirtschaft nach dem Corona-Jahr 2021 bei. Doch auch die Inflation trieb laut Statistischem Bundesamts die Staatseinnahmen in die Höhe. Die Staatsausgaben sind dagegen – wegen geringerer Kosten für Corona-Hilfen – um ein Prozent gesunken.

Entlastungseffekt der Inflation auf die gestiegenen Staatsschulden

Noch gewichtiger ist der Entlastungseffekt der Inflation auf die Staatsschulden. Diese sind auf 2,34 Billionen Euro geklettert, das sind 27.900 Euro pro Kopf oder 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Rein rechnerisch verringert eine Inflationsrate von zehn Prozent diese Schuldenlast jährlich um 213 Milliarden Euro, das entspricht einem Viertel aller Steuereinnahmen. Kein Wunder also, daß die Inflationsbekämpfung für die meisten Regierungen nur ein Lippenbekenntnis ist – sie selbst sind die größten Profiteure der Geldentwertung.

Vor diesem Hintergrund wäre es angezeigt, die Bürger sehr viel stärker zu entlasten, etwa durch eine deutliche Senkung der Steuern auf Energie. Noch immer machen Steuern und Abgaben rund die Hälfte des Tankstellenpreises von Benzin und Diesel aus. Das ist deutlich mehr, als der Straßenverkehr an fiskalischen Kosten verursacht. Vor der Energiekrise konnte man vielleicht noch argumentieren, daß dies der Umwelt und dem Klimaschutz diene. Bei den jetzigen Rekordhöhen, die allein schon der Marktpreis erreicht hat, ist dieses Argument obsolet geworden. Es ist schlimm genug, daß die Bürger als Sparer faktisch enteignet werden. Der Staat als Hauptgewinner der Geldentwertung sollte sie nicht auch noch mit sachlich nicht mehr zu rechtfertigenden Abgaben belasten.






Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrte bis 2020 VWL an der Westfälischem Wilhelms-Universität Münster.