© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Wenn das Reale verschwindet
Hyperrealität: Permanente Panik-Kampagnen haben die Menschen dahin gebracht, daß sie nicht mehr wissen, was die Wirklichkeit ist und was sie glauben können
Thorsten Hinz

Kürzlich verfügte die Berliner Senatsinnenverwaltung, daß die Polizei die Erfassung des Migrationshintergrunds jugendlicher Straftäter einzustellen hat. Wäre das bloß ein neuer Akt der Wirklichkeitsverweigerung, so wäre das schlimm genug. Doch wenigstens könnte man erwarten, daß die Realität die verantwortlichen Politiker irgendwann einholt, widerlegt und der Lächerlichkeit preisgibt. Über dieses Stadium sind wir jedoch längst hinaus. Die politischen Gesinnungstäter verfügen über eine geballte administrative, institutionelle und mediale Macht, die sie in die Lage versetzt, die reale Wirklichkeit durch ihre artifizielle Wunschwelt auszutauschen.

In dieser schönen neuen Welt wird die unzweideutige Benennung krimineller Delikte, ihrer Urheber und Hintergründe schwerer gewichtet als die Kriminalität selbst und stellt schließlich den Straftatbestand der „Volksverhetzung“ dar. Die spezielle Art der Kriminalität verschwindet deshalb nicht aus der Welt, aber sie wird aus ihrem Kontext herausgelöst, handlich zerlegt, neu zusammengesetzt und in einen Rahmen – in ein „Narrativ“ – gestellt, in dem ihre Eigenart und Ursächlichkeit nicht mehr identifizierbar sind.

Die Begriffe „Ausländerkriminalität“, „Ausländer“, „Asylant“ sind aus der öffentlichen Kommunikation ganz oder so gut wie verschwunden. Sogar der „Flüchtling“ befindet sich auf dem Rückzug. Denn die Bezeichnungen markieren eine rechtliche Unterscheidung zum Staatsbürger. Das Wort „Migrant“ hingegen klingt technisch nüchtern, neutral. Es assoziiert eine fluide Welt, in der Kapital, Warenströme und auch Personen ganz selbstverständlich grenzenlos flottieren. Unterschlagen wird der entscheidende Unterschied: die fehlende Reziprozität. Warenlieferungen werden vom Importeur bezahlt; investiertes Kapital sorgt für Wertschöpfung, die dem Investor einen Gewinn sichert. Im Fall der Massenmigration liegt der Nutzen radikal einseitig bei den Migranten; in den Zielländern sorgt sie für finanzielle und soziale Kosten.

Da die Einseitigkeit rational nicht vermittelbar ist, treten an die Stelle der nachprüfbaren Kosten-Nutzen-Aufstellung emotionale Propagandaformeln wie „Bereicherung“, „kulturelle Vielfalt“, „Willkommenskultur“ oder – besonders ergreifend – „Schutzsuchende“. Jene zurückzuweisen wäre nicht nur herzlos, es wäre auch ein Verstoß gegen die „Würde des Menschen“, weshalb entsprechende Forderungen in die Nähe der „Volksverhetzung“ geraten. Die Manipulation und moralische Erpressung verbindet sich stillschweigend mit polizeilicher und juristischer Einschüchterung.

Nun gibt es aber Migranten-Delikte, die sich aus einem archaischen Verhältnis zu physischer Gewalt oder aus der Wahrnehmung der Bundesrepublik als Beutegesellschaft ergeben. Über diese erkennbare Faktizität wird eine Melange aus Halbwahrheiten, Unterschlagungen, emotionalen Appellen und interessengeleiteten Expertisen gelegt. Im Ergebnis erscheinen die Konflikte und Delikte als Folge von Diskriminierung oder als Ausdruck kulturübergreifender „toxischer Männlichkeit“, zu deren Erfassung und Bekämpfung neue Forschungs- und Beratungsstellen, noch mehr Willkommenskultur und Umverteilung nötig sind.

Täglich ergießt sich eine Propaganda-Lawine aus Wort, Schrift und Tönen über die Menschen, die instinktiv die manipulative Absicht spüren, aber weder über die Zeit noch die Mittel verfügen, um den Knäuel zu entwirren. Sie kapitulieren stillschweigend und werden zu Gefangenen einer – wie der französische Medienwissenschaftler Jean Baudrillard (1929–2007) das nannte – simulierten „Hyperrealität“, die nicht widerlegbar ist, da sie nur um sich selber zirkuliert und sich ihre eigene Logik und Gesetze gibt. In dieser simulierten Wirklichkeit werden die Fakten „von vornherein in die rituelle Dechiffrierung und Orchestrierung der Massenmedien ein(geschrieben) und (...) in ihrer Inszenierung und ihren möglichen Folgen vorweggenommen“. 

Wenn ein Asylbewerber zum Beispiel mit dem Ruf „Allahu akbar“ Passanten niedersticht, hat das in der Hyperrealität auf keinen Fall mit dem Islam, sondern mit einer psychischen Störung zu tun, die auf traumatische Erfahrungen im ungastlichen Deutschland zurückgeht. Wenn umgekehrt – wie 2020 in Hanau – ein Deutscher eine Anzahl Menschen ausländischer Herkunft erschießt, seine Mutter und schlußendlich sich selbst tötet und ein Manifest hinterläßt, in dem Fachleute ein „psychiatrisches Syndrom“, einen „schweren paranoiden Wahn mit zusätzlichen (wahnhaften) Größenideen“, „Halluzinationen, Denkstörungen“ und „paranoide Schizophrenie“ feststellen, ändert das nichts daran, daß der Täter die Inspiration aus rechten Haßreden empfangen hat. In Chemnitz wurde eine „rechte Hetzjagd“ simuliert und als unumstößliches Faktum festgeschrieben, aus dem politische Konsequenzen zu ziehen sind.

In dieser artifiziellen Wirklichkeit ist nicht nur verzeihlich, sondern verständlich, die Deutschen als „Kartoffeln“ zu bezeichnen und ihnen die Urheberin solcher deutschenfeindlichen Bekundungen als Antidiskriminierungsbeauftragte vor die Nase zu setzen. Der Beschluß des Berliner Senats hat also einen langen Vorlauf und ist nur ein Detail im großen, hyperrealen Panorama.

Die Überformung der realen durch eine betonierte Hyperwirklichkeit war der Traum des klassischen Totalitarismus, den er durch eine Kombination aus Ideologie, Propaganda und Terror zu verwirklichen suchte. Die Folgen für die Betroffenen teilten sich Außenstehenden als Massenwahnerscheinung mit. Der französische Schriftsteller André Gide, der 1936 als Staatsgast die Sowjetunion besuchte und sogar auf der Ehrentribüne auf dem Roten Platz in Moskau Platz nahm, unterschied sich von anderen hofierten Besuchern, weil er die düstere Lebenswirklichkeit von der Propaganda-Fassade zu unterscheiden vermochte. Allerdings hatte er keine Erklärung dafür, weshalb die Menschen trotz Armut und Unterdrückung der Sowjetführung zujubelten. Dieses merkwürdige Verhalten wird der Einfachheit halber dem beschränkten, halbgebildeten, indoktrinierten, provinziellen „Homo sovieticus“ zugeschrieben. Den gab es zweifellos, doch die Wahrheit war komplizierter.

Der russische Philosoph Michail Ryklin hat in dem Buch „Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz“ die öffentliche Begeisterung der Sowjetbürger für Stalin „die schwerste Form der Äußerung des Traumas“ genannt. „Jubeln ist keine Fröhlichkeit. Unter dem Terror kann man nichts anderes machen. Wer nicht jubelt, der kann nicht überleben. Wenn wir nicht lachen, nicht jubeln, wenn wir nicht die äußeren Zeichen der Begeisterung zeigen, dann werden wir verdächtigt. Gide konnte das nicht verstehen als Ausländer, für ihn blieb es ein Geheimnis, warum die Leute so viel lachen, wenn alles so schlecht geht.“

Viele Betroffene waren sich der lügenhaften Inszenierung und ihrer Unfreiheit vollkommen bewußt. Bereits die Tatsache, daß das Regime das eigene vom Ausland konsequent abschottete, legte den Verdacht nahe, daß es den Vergleich scheute und etwas zu verbergen hatte. Nach 70 Jahren fiel die Inszenierung in sich zusammen.

Was in der Sowjetunion eine Tragödie gewesen war, geriet in der DDR vollends zur Farce. Zwar blieb die SED-Propaganda bis in den Herbst 1989 hinein intakt, aber die Attraktion des anderen deutschen Staates genügte, um die angestrebte Hyperrealität zu widerlegen. Die Bevölkerung respektierte ohnmächtig die politisch-ideologische Fassade, ohne sie mehrheitlich zu bejahen und als Teil ihres Selbst zu verinnerlichen.

Den westlichen Gesellschaften liegt keine dem Marxismus-Leninismus vergleichbare Großideologie zugrunde. Statt der einen „Großen Erzählung“ legen sich viele kleine Erzählungen über das öffentliche und private Leben. Die Antirechts-, Migrations-, Klima-, Corona-, Rassismus-, Gender-, LGTBQ-Kampagnen, die in immer schnellerer Folge auf die Menschen einprasseln, laufen auf eine umfassende Transformation der Lebenswelt hinaus, deren Zielintention allerdings noch unscharf ist. Seit dem Ukraine-Krieg – von dem wir auch nur wissen, was die Medien uns wissen lassen – zeichnet sich ab, daß eine mit dem Askese-Ethos camouflierte Verarmung dazugehört.

Erstaunlich bleibt, daß eine Mehrheit sich die künstlich herbeigeführte Dynamik innerlich zu eigen macht. Obwohl vieles, was eben als „Verschwörungstheorie“ lächerlich gemacht worden ist, sich im nächsten Moment als Tatsache erweist, bleibt die Autorität der großen „Wahrheitssysteme“ (so Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer) unangefochten.

Das Modell der Schweigespirale – das Verstummen aus Furcht vor sozialer Isolation und beruflichen Nachteilen – reicht zur Erklärung nicht aus, denn die Indoktrination wirkt zersetzend bis in den privaten und familiären Bereich hinein, der normalerweise einen Schutz- und Rückzugsraum vor sozialen Sanktionen bietet. Trotzdem führen Meinungsverschiedenheiten über die Covid-Maßnahmen oder den Ukraine-Krieg heute zur Aufkündigung von Freundschaften und familiären Loyalitäten.

Man kennt dieses Verhalten aus der Hochphase des Stalinismus, als die Angst vor der Verhaftung sogar Familien und Freundeskreise zersetzte bis zur gegenseitigen Denunziation. Das war erklärlich als Unterwerfung unter einen Staatsterror, der die Lebenswirklichkeit fest im Griff hatte.

Heute gibt es keinen auch nur annähernd vergleichbaren Außendruck. Annähernd vergleichbar aber ist die Erfahrung des Weltverlusts, des Verlusts des gemeinsamen Bezugssystems und seine Substitution durch eine ideologisch motivierte Hyperrealität. Permanente Panik-Kampagnen haben die Menschen dahin gebracht, daß sie nicht mehr wissen, was die Wirklichkeit ist und was sie glauben können. In ihrer Verunsicherung greifen sie nach den Erklärungen und Rettungsversprechen der politisch-medialen Wahrheitssysteme: Rettung vor den „Nazis“, vor dem Corona-Sterben, vor dem Hitzetod in der Klimaerwärmung, Rettung vor dem Blutdurst Wladimir Putins. Offenkundige Absurditäten wie das sozial konstruierte Geschlecht werden als Beifang mitgenommen.

In klassischen Diktaturen findet die Unterwerfung im Zeichen der Angst vor äußerer Gewalt bis hin zu körperlichen Qualen statt. Heute vollzieht sie sich als pervertierte Katharsis, als vermeintliche Reinigung von falschen Zweifeln. Die Aufkündigung privater Bindungen ist der billig zu zahlende Preis. Damit scheint sich zu verwirklichen, was Baudrillard die „Agonie des Realen“ nannte. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Medien, die in einer digitalisierten Lebenswelt das wichtigste, im Lockdown für viele sogar das einzige soziale Band darstellen. So bringen die Simulationen ohne physischen Zwang „das gesamte Reale mit ihrem Simulationsmodell zur Deckung“ und die Differenz zwischen Simulation und Realität im Bewußtsein der Massen zum Verschwinden. Die Realität verkommt zur simulierten, allumfassenden Hyperrealität.

Für Herbert Marcuse bestand kein Unterschied zwischen dem Massenbewußtsein im Kommunismus und in der Demokratie; hier wie dort dachten die Menschen eindimensional. „Das eindimensionale Denken wird von den Technikern der Politik und ihren Lieferanten von Masseninformation systematisch gefördert. Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder  Diktaten werden.“ 

Die westliche Eindimensionalität hat die östliche Variante überlebt und übertrifft sie noch an Kraft und Tiefenwirkung, weil sie sich mit der Illusion der Freiheit verbindet. Die scheinbare Begründung für die Illusion ist der Sieg des Westens über den real existierenden Sozialismus. Dieser war zur einen Hälfte an seinen inneren Widersprüchen und Lügen, zur anderen Hälfte an der Konfrontation mit der westlichen Alternative zerbrochen, die im direkten Vergleich eine Welt der Faktizität, der Vernunft und Freiheit darstellte. Die heutige Hyperrealität hingegen muß trotz zunehmender Absurdität kein besseres Außen fürchten. Rußland, China, Iran, Venezuela bieten keine oder die schlimmeren Alternativen.

Das Mantra, „daß es im Innersten (des Menschen) etwas gab, das unangreifbar war und unverletzbar“, mit dem Anna Seghers ihren KZ-Roman „Das siebte Kreuz“ abschloß, ist ein frommer Irrglaube. Denn der vielzitierte Satz, daß eine Lüge, um geglaubt zu werden, nur oft genug wiederholt werden muß, wird durch die Hirnforschung bestätigt. Die permanente Aktivierung neuronaler Schaltkreise durch immer raffinierter ausgelöste Reize führt zu ihrer Verfestigung, so daß aus den größten Verrücktheiten geglaubte Wahrheiten und sogar physische Tatsachen werden. Das Wort von der „Mauer in den Köpfen“ erhält damit eine ganz neue Bedeutung. Daß ausgerechnet ein Berliner Senat sie nun weiter perfektioniert, fällt in die Kategorie der geschichtlichen Paradoxien.

Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Merve Verlag, Leipzig 1978/2016, broschiert, 112 Seiten, 10 Euro