© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Kultur
Erinnerung an Kapitalismus und Klasse
(ob)

Klassen repräsentierten für Karl Marx und Friedrich Engels die Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft. Die Klassenanalyse hilft daher, soziale Ungleichheit nicht als individuelles Versagen, sondern als Folge ökonomischer, sich in der Klassenspaltung manifestierender Ungleichheit zu erhellen. Die überwiegend systemkonforme – „um nicht zu sagen konformistische“ – westdeutsche Soziologie hatte für den „Armutsforscher“ Christoph Butterwegge von solchen elementaren Einsichten längst Abschied genommen und „Totenreden auf die kapitalistische Klassengesellschaft“ gehalten, noch bevor die Mauer fiel und die marxistische Klassenanalyse als „nicht mehr zeitgemäß“ galt. Obwohl nach wie vor die soziale Klassenzugehörigkeit eine der prägendsten Determinanten sozialer Ungleichheit von Lebenschancen sei, mieden heute in der Politikberatung aktive Establishment-Soziologen Begriffe wie Klasse und Kapitalismus. Stattdessen sei es Mode geworden zu behaupten, Klassen seien primär kulturell, erst sekundär ökonomisch bedingte Gebilde. Gegenteiliges, wendet Butterwegge ein, stünde auch nicht bei Marx und Engels. Nur hätten sie die Rangfolge frei nach Bert Brecht anders fixiert: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Kultur.“ Nur wenn die materiellen Existenzgrundlagen gesichert seien, sei eine halbwegs angstfreie Betätigung auf geistig-künstlerischem Gebiet möglich. Diesen Vorrang des Materiellen in einer Klassengesellschaft habe die von Stornierungen gebeutelte, wochenlang von ihrem Publikum abgeschnittene Kulturszene in der Coronakrise „leidvoll erfahren“ (Aus Politik und Zeitgeschichte, 39/2022). 


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