© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

„Aus dem Schmerz geboren“
Kino: Ein Dokumentarfilm widmet sich dem deutschen Filmemacher Werner Herzog, der im September achtzig Jahre alt wurde
Dietmar Mehrens

Neben dem im August verstorbenen Meisterregisseur Wolfgang Petersen und dem „deutschen Spielberg“ Roland Emmerich gibt es noch einen Deutschen, der es in Hollywood ganz weit nach oben gebracht hat, auch wenn er viel weniger mit dem Kassenmagnetenkino seiner beiden Kollegen in Verbindung gebracht werden kann. Doch auch Werner Herzog drehte mit den Größten der Branche, mit Nicole Kidman, Nicolas Cage, Christian Bale und Robert Pattinson, um nur die wichtigsten zu nennen.

Die bedeutendste biographische Notiz seiner Kindheitsjahre ist die Abwesenheit des Vaters. „Wir machten unsere eigenen Regeln“, schwärmt Herzog über diese Zeit. Doch wie so oft bei dem Filmkünstler aus Bayern weiß man nicht, was Ironie ist und was Ernst. Denn den Mann zu durchschauen, der sich sogar dabei filmen ließ, wie er seinen eigenen Schuh zubereitete, um ihn zu verspeisen, ist nicht leicht. Thomas von Steinaeckers Dokumentarfilm „Werner Herzog – Radical Dreamer“ stützt sich bei seiner Annäherung einerseits auf Filmausschnitte und Archivaufnahmen, begleitet den Filmemacher, der am 5. September sein achtzigstes Lebensjahr vollendete, aber auch ins oberbayerische Sachrang, wohin die Mutter mit Baby Werner und dessen Bruder Tilbert aus dem ausgebombten München floh, und auf die Kanareninsel Lanzarote, wo Herzog vor über fünfzig Jahren den provokanten Schwarzweißfilm „Auch Zwerge haben klein angefangen“ (1970) drehte. Vieles kam dem Filmemacher auf diesen Ausflügen wieder in Erinnerung.

Strapaziöse Zusammenarbeit mit Klaus Kinski

Herzog gehört zusammen mit Wim Wenders, Volker Schlöndorff und Alexander Kluge zur Avantgarde des Autorenfilms, die in den Jahren 1965/66 das Kino vom Staub des Heimat-, Edgar-Wallace- und Winnetou-Films befreite. „Abschied von gestern“ (1965), der Titel einer herausragenden Regiearbeit Alexander Kluges, war dabei Programm. Es sei um „Verstörung und Auflehnung“ gegangen, sagt Herzog und beschreibt die Sehnsucht junger Filmemacher jener Epoche nach neuen, „unverbrauchten Bildern, nach Bildern, die noch nie gesehen worden sind im Kino“.

Besser als mit dieser Selbstauskunft kann man wohl das Kino des Eigenbrötlers Herzog nicht beschreiben. Denn mit „Aguirre oder der Zorn Gottes“ (1972), der Murnau-Hommage „Nosferatu“ (1979) und „Fitzcarraldo“ (1982), seinen bedeutendsten Filmen aus der deutschen Schaffens-periode, hat er genau diesen Anspruch eingelöst. Unvergessen die strapaziöse Nachstellung eines Schiffstransports durch den peruanischen Dschungel für „Fitzcarraldo“, untermalt mit Opernmusik. Unvergessen aber auch die strapaziöse Zusammenarbeit mit Klaus Kinski, der unter Herzogs Regie fortwährend auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn tänzelte. Ein Stammeshäuptling soll dem Regisseur während des Drehs angeboten haben, Kinski heimlich zu ermorden. Schon in „Aguirre, der Zorn Gottes“ über einen irren Conquistador, der das legendäre El Dorado sucht, hatte der exzentrische Mime den Größenwahn seiner Figur beklemmend realistisch dargestellt.

Wie Herzog aus der Zusammenarbeit mit dem notorisch aus der Rolle fallenden Darsteller, der in „Cobra Verde“ (1987) bereits deutliche Züge einer schweren psychischen Erkrankung aufwies, derart große Kunst hervorzaubern konnte, ist vielen bis heute rätselhaft. Doch es war eben auch Klaus Kinski, der das ehrgeizige, von Monomanie befeuerte Mammutprojekt „Fitzcarraldo“ rettete, als Jason Robards, der ursprünglich die Hauptrolle spielen sollte, krankheitsbedingt ausfiel und Mick Jagger gleich mitnahm, womit ein halb abgedrehter Film vor dem Aus stand. Doch im Angesicht existentieller Bedrohungen scheint Herzog zu Hochform aufzulaufen.

Davon zeugt auch sein Marsch nach Paris. Als die Filmkritikerin Lotte Eisner, eine wichtige Freundin und Fördererin, im Sterben lag, schloß der katholisch erzogene Filmemacher einen Pakt mit Gott und unternahm eine Pilgerreise von München nach Paris, fest überzeugt, das werde die Todgeweihte retten. Eisner überlebte.

Er sei kein Profi, er sei ein Visionär, beschreibt sein Kollege Volker Schlöndorff den Filmkünstler. Wim Wenders nennt ihn einen „lonesome rider“. Alle drei eint auch eine große Liebe zum Dokumentarfilm, die ihnen Aufmerksamkeit auch außerhalb ihrer Heimat einbrachte. Der hierzulande wenig beachtete Film „Grizzly Man“ (2005) über zwei Naturschützer, die in Alaska Opfer eines wütenden Bären wurden, begeisterte die amerikanischen Zuschauer. Auch die Leistung von „Fitzcarraldo“ würdigte Hollywood mehr als die deutsche Filmbranche, ein Grund für Herzog, schließlich seinen Wohnsitz nach Kalifornien zu verlegen. Seine zweite Frau Lena, im Film stets an seiner Seite, dürfte dabei auch eine Rolle gespielt haben.

Geschmeidiger Abenteuerfilm mit Nicole Kidman

In den USA entstanden eine Reihe weiterer Spielfilme. In „Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen“ (2009) sah man Nicolas Cage als würdigen Klaus-Kinski-Ersatz, in dem unorthodoxen, jedoch ziemlich spröde inszenierten Psycho-Drama „Ein fürsorglicher Sohn“ (2009) Michael Shannon. In „Rescue Dawn“ (2006), der Spielfilmversion seiner eigenen Doku „Flucht aus Laos“ („Little Dieter Needs to Fly“, 1997) spielte Christian Bale die Hauptrolle. Der „Batman“-Darsteller kommt in dem Filmporträt ebenso zu Wort wie Nicole Kidman. Die Ex von Tom Cruise verkörperte die Forschungsreisende Gertrude Bell, eine Art weiblichen Lawrence von Arabien, in dem für Herzogs Verhältnisse ungewöhnlich geschmeidigen Abenteuerfilm „Königin der Wüste“ (2015). Der echte Colonel Lawrence kam in dem Film auch vor. Ihn spielte der amerikanische Darsteller Robert Pattinson. Der „Bis(s) zum Morgengrauen“-Star beschreibt den Regisseur mit den Worten: „Es ist unmöglich, die Welt so zu sehen wie er.“ Carl  Weathers, sein Filmpartner für den „Krieg der Sterne“-Ableger „The Mandalorian“ (2019) vergleicht Herzog gar mit Darth Vader, bezieht sich damit aber nur auf Herzogs sonore Stimme.

Am wichtigsten sind für von Steinaeckers filmische Hommage natürlich Aussagen des 80jährigen über sich selbst. „Alle meine Filme sind aus dem Schmerz geboren, nicht aus dem Vergnügen“, lautet einer dieser Sätze, die im Gedächtnis bleiben. Eine Spur, die zum Ursprung der schmerzlichen Verwundungen führen könnte, wird nicht erkennbar. Der „radikale Träumer“ Werner Herzog überläßt auch in einer Dokumentation über sich selbst das letzte Urteil seinen Zuschauern.


Kinostart ist am 27. Oktober 2022