© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

In zahlreiche Masken aufgespalten
Ein amerikanischer Intellektueller im Reich Mussolinis: Zum 50. Todestag des Dichters Ezra Pound
Heinz-Joachim Müllenbrock

Im Mai 1945 bot sich der Weltöffentlichkeit das makabre Schauspiel des von den amerikanischen Militärbehörden in einen Affenkäfig im Freien eingesperrten Dichters Ezra Pound. Wegen seiner amerikakritischen, seit 1941 über Radio Rom gesendeten Radioansprachen des Hochverrats angeklagt, wurde Pound etwas später in die Vereinigten Staaten überführt, in einem Prozeß für unzurechnungsfähig erklärt und danach für über ein Jahrzehnt in eine Irrenanstalt gesteckt.

In einer Ironie des Schicksals fiel der Nullpunkt seiner bürgerlichen Existenz mit einem Höhepunkt seines dichterischen Schaffens zusammen, als Pound die in der Isolierung des Militärstraflagers bei Pisa geschriebenen „Pisan Cantos“ zu einem bewegenden Rückblick auf sein wechselvolles Leben gestaltete.

In die Literaturgeschichte schrieb sich der 1885 in Hailey (Idaho) geborene Pound schon in den Londoner Jahren ab 1908 ein, als er zur treibenden Kraft für eine Erneuerung der Dichtungssprache und gemeinsam mit Thomas E. Hulme zum Wortführer des Imagismus wurde. Dessen programmatischer Kern bestand in der Forderung, die sprachliche Verwaschenheit der primär auf harmonischen Wohlklang bedachten viktorianischen Lyrik durch eine präzise, hart an die Wirklichkeit stoßende Sprache abzulösen (vgl. Pounds Sammlung „Des Imagistes“ von 1914). Darin traf sich der Imagismus mit der kurzlebigen Strömung des von Pound ebenfalls unterstützten Vortizismus. Pounds bekanntestes, an ein japanisches haiku erinnerndes imagistisches Gedicht trägt den Titel „In a Station of the Metro“. 

Er verdammte den Wucher als Grundübel der Menschheit

Neben eigener kreativer Arbeit betätigte er sich als Literaturförderer großen Stils, der T. S. Eliot, dessen Manuskript von „The Waste Land“ der auf Prägnanz bedachte Pound rigoros auf fast die Hälfte zusammenstrich, wesentliche Schaffensimpulse vermittelte und James Joyce sowohl finanziell als auch verlegerisch unterstützte und so zum Geburtshelfer von dessen Roman „Ulysses“ wurde.

In dem Langgedicht „Hugh Selwyn Mauberley“ (1919/20), seiner satirischen Abrechnung mit dem steril-musealen intellektuellen Klima Londons, weitete sich seine Literaturkritik zu beißender Gesellschaftskritik, die ihr thematisches Zentrum in dem scharf zugeschnittenen Gegensatz zwischen kulturell gesegneteren Zeiten und der schalen, uninspirierten Gegenwart hat. Den ihn ein Leben lang beschäftigenden Kulturschock des Ersten Weltkriegs preßte er in folgende bitter-zynische Verse zusammen: „Es starben Millionen,/ Darunter die Besten,/ Für eine alte Hündin ohne Zähne,/ Für eine verpfuschte Zivilisation“.

Als virulenter Gesellschaftskritiker entpuppte sich Pound bald darauf in „The Cantos“, seinem gewaltigen Lebenswerk. Dabei entwickelte sich das lateinische Wort „usura“ (Wucher) zum allgegenwärtigen, die Cantos durchziehenden und häufig mit antisemitischen Ausfällen gepaarten Kampfbegriff gegen die Mißstände der modernen Zivilisation. Bereits in Canto XV, einem der beiden politische und journalistische Größen der Zeit in skatologischer Sprache verunglimpfenden Höllen-Cantos, identifizierte er in Anlehnung an Dantes scheußliches Monster Geryon aus dem 17. Gesang des „Inferno“ Usura als „the beast with a hundred legs“. 

In den Usura-Cantos XLV und LI erfolgte später die ausdrückliche Verdammung des Wuchers als Grundübel der Menschheitsgeschichte schlechthin. Ähnlich wie schon Aristoteles verurteilte er den Wucher, weil das Geld selbst hier die Quelle des Erwerbs ist und nicht seinem eigentlichen Zweck des Austauschs dient. Darüber hinaus bündelte sich für Pound in der Usura-Metapher die Verderbtheit der gegenwärtigen Welt, die mit ihrer heillosen, die Natur ausbeutenden Profitgier Staat und vor allem Kultur untergrabe. 

Pound, der ein reges Interesse an wirtschaftlichen Dingen zeigte und ein „ABC of Economics“ (1930) veröffentlichte, faßte auch Alternativen zu dem verhaßten kapitalistischen System ins Auge. Dabei sympathisierte er abwechselnd mit der Sozialkredit-Theorie von Major Clifford Hugh Douglas und insbesondere mit dem Schwundgeld-Konzept Silvio Gesells.

Im faschistischen Italien fand er seine geistige und politische Heimat

Als Pound die bitteren Tiraden der Usura- Cantos verfaßte, hatte er, nach einem dreijährigen Intermezzo in Paris seit 1921, bereits seine endgültige geistige und politische Heimat in dem faschistischen Italien Benito Mussolinis gefunden. Dessen nationaler Sozialismus und korporativer Staatsgedanke entsprachen den politischen Überzeugungen Pounds. In Mussolini, der ihn 1933 in Audienz empfing und in dem er einen Geistesverwandten Thomas Jeffersons sah, glaubte er diejenige Persönlichkeit vor sich zu haben, die dazu bestimmt schien, Pounds eigene gesellschaftliche Wertvorstellungen zu realisieren. Er verkörperte gewissermaßen den positiven Gegenpol zu dem in den Cantos mehrfach als Agenten des internationalen Finanzkapitalismus heruntergeputzten amerikanischen Präsidenten F. D. Roosevelt. Seine Loyalität zu Mussolini bewahrte Pound bis zu dessen schmählichem Ende beim Untergang der kurzlebigen Republik von Salò und literarisch darüber hinaus.

In dem politisch-weltanschaulich stimulierenden italienischen Ambiente intensivierte Pound seine Arbeit an den bereits während des Ersten Weltkriegs begonnenen Cantos. „The Cantos“, seine über Jahrzehnte geschaffene größte Dichtung, verstand er als modernes Pendant zum traditionellen Epos. Allerdings weist Pounds Opus magnum weder eine Handlung noch einen Erzählfaden auf. Offenbar betrachtete er die bis in das Wirtschaftsleben spürbaren Auseinandersetzungen zwischen kulturbildenden und kulturzerstörerischen Kräften als zeitgemäßes Äquivalent zu den kriegerischen Vorgängen im alten Epos.

Wiederholt versucht Pound in den Cantos in offenbarungsartig einbrechenden Momenten poetischer Schönheit Eindrücke einer zeitlos-transzendenten utopischen Gegenwelt zu vermitteln. Über weite Strecken bildet aber Geschichte die Kernmaterie der Cantos. Sie soll dem Leser nicht in chronologischer Darstellung, sondern durch Wiederholung oder Variation bestimmter Leitmotive vermittelt werden. Das Verfahren, in einem elliptischen Stil Bild neben Bild, Motiv neben Motiv in abruptem, nicht nachvollziehbarem, rein subjektivem Wechsel zu setzen, macht die mit universaler Bildung imprägnierten Cantos zu einem der am schwersten lesbaren Texte der Weltliteratur. Ein harscher Kritiker hat Pounds erratische Methode mit dem willkürlichen Griff in einen Zettelkasten verglichen! Der arg strapazierte Leser sieht sich jedenfalls gezwungen, zu Hilfsmitteln zu greifen, denn der intendierte Sinn läßt sich weitestgehend, sofern überhaupt, nur aus der Kenntnis des Kontextes der in den verschiedensten Sprachen inklusive des Chinesischen zitierten Literatur erschließen.

Aus den elf Pisaner Gesängen (Cantos LXXIV-LXXXIV) spricht eine neue Stimme des Dichters. In der Abgeschiedenheit des Straflagers ohne Bücher ganz auf sich selbst zurückgeworfen, sah Pound sich gezwungen, über sein Leben unmittelbar nachzudenken, ohne sich in einen intertextuellen Kokon einspinnen zu können. Nachdem er seine Persönlichkeit vorher in zahlreiche Masken („Personae“, 1908ff.) aufgespalten hatte, traten jetzt biographische Reflexionen an die Stelle historischer Reminiszenzen.

In einer Stunde innerer und äußerer Not, die ihm Gelegenheit bietet, sich vor sich selbst und der Öffentlichkeit für sein bisheriges Tun zu rechtfertigen, gibt er freimütige Einblicke in sein an einem schmachvollen Tiefpunkt angelangtes Leben und seine prekäre innere Verfassung. In dem bewegenden Canto LXXXI fordert er sich selbst in demutsvoller Haltung dazu auf, von aller Eitelkeit abzulassen („Pull down thy vanity“), und ruft sich in einem Versuch existentieller Tröstung zu, die im Leben empfundene Liebe als bleibende Mitgift zu bewahren („What thou lovest well remains“).

Pound war wiederholt für den Literaturnobelpreis nominiert

Nach den „Pisan Cantos“ erschienen noch die beiden Blöcke „Rock-Drill de los Cantares, Cantos LXXXV-XCV“ (1956) und „Thrones de los Cantares, Cantos XCVI-CIX“ (1959), in denen es Pound, in kaleidoskopischer Manier Vergangenheit und Gegenwart miteinander verklammernd, vor allem um die Grundlagen guten Regierens geht. Mit der Evaluierung geschichtlicher Epochen und Gestalten unter diesem Gesichtspunkt verknüpft der auf konfuzianisches Gedankengut zurückgreifende Pound das Thema der inneren, moralischen Verfassung, die einer vollkommenen weltlichen Ordnung entsprechen sollte. 

Ganz am Ende seiner nur noch in Fragmenten vorliegenden Cantos zieht Pound, der die unzureichende strukturelle Durchdringung der Cantos eingesteht („I cannot make it cohere“, Canto CXVI), das bitter-melancholische Fazit, daß es ihm nicht gelungen sei, sein großes Gedicht mit einer endgültigen Aussage über das von ihm angestrebte Paradies zu krönen. Seiner intellektuellen Forschungsreise durch die Menschheitsgeschichte fehlt so der letzte Schliff. 

Nach der 1958 erfolgten Entlassung aus der psychiatrischen Anstalt siedelte sich Pound, der wiederholt für den Literaturnobelpreis nominiert war, in unverbrüchlicher Verbundenheit mit seiner Wahlheimat wieder in Italien an. Allerdings verfiel er nun immer häufiger in Depressionen und hüllte sich in seinen letzten Lebensjahren zunehmend in ein der Welt ein Rätsel aufgebendes Schweigen. Am 1. November 1972 ist er, kurz nach seinem 87. Geburtstag, in Venedig gestorben. 






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über England nach dem Tod Georgs VI. (JF 6/22).