© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Es blieb nur eine Floskel
Vor vierzig Jahren erhofften Konservative mit dem Regierungswechsel zu Helmut Kohl eine „geistig-moralische Wende“ – und wurden bitter enttäuscht
Karlheinz Weißmann

Gemeinhin wird der Wechsel von der SPD/FDP-Koalition zur CDU/ CSU/FDP-Koalition im Jahr 1982 als „Wende“ bezeichnet. Als der neue Kanzler Helmut Kohl am 13. Oktober seine erste Regierungserklärung abgab, fehlte der Begriff aber im Redetext. Kohl sprach nur von „Erneuerung“. Damit folgte er einer Empfehlung des Instituts für Demoskopie Allensbach, das im Vorfeld verschiedene Schlüsselworte auf ihre Wirkung geprüft hatte. „Erneuerung“ war positiv besetzt und hinreichend unverfänglich, also geeignet, den Bürgern ein Signal zu geben, daß es nun anders und besser werde, und gleichzeitig die FDP bis zur Neuwahl zu beruhigen, die erst im März des nächsten Jahres folgen sollte. Dazu mußte Kohl die Mitverantwortung der Freien Demokraten für die Lage des Landes sorgfältig kaschieren: gekennzeichnet durch eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, den Fehlschlag der großen Reformen, den Streit um die Nachrüstung, das wiederholte Aufflammen des linken Terrors, eine Wirtschaftskrise und den Anstieg der Arbeitslosigkeit.

„Alle geistigen Kräfte rechts vom Marxismus sammeln“

Schon im Vorfeld der Bundestagswahl von 1980 hatte es so ausgesehen, als habe die seit 1969 amtierende sozialliberale Koalition abgewirtschaftet. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß war als Kanzlerkandidat der Union mit einem Programm angetreten, das den Titel „Mannheimer Manifest für die Wende in Deutschland“ trug. Strauß selbst hatte für den Begriff „Wende“ plädiert, und das sicher wegen seiner polemischen Wirkung. Denn seit dem Beginn der siebziger Jahre war immer wieder von der Möglichkeit oder der Gefahr einer Wende, genauer einer „Tendenzwende“, gesprochen worden. Dahinter stand eine massive Erwartungsenttäuschung, die auf utopische Gestimmtheit und Planungseuphorie folgte. 

Das dramatische Scheitern des Hoffnungsträgers Willy Brandt, die Verwahrlosung des öffentlichen Raums, die Anschläge der RAF, die Inflation, der Ölpreisschock von 1973 und der Konjunktureinbruch führten zur Entstehung einer breiten, in sich aber sehr heterogenen Allianz derer, die nicht von einer zeitweisen Formschwäche der progressiven Kräfte ausgingen, sondern von der Konsequenz einer Fehlentwicklung, die grundsätzlich korrigiert werden mußte.

Wer also nicht darauf beharrte, daß „der Geist der Linken (…) bis zu einem gewissen Grade der Geist und die Menschlichkeit schlechthin“ sei, weshalb alles verhindert werden müsse, was „das Fortschreiten des Menschen auf seine Befreiung hin blockieren“ (Carl Améry) könne, setzte auf Einsicht und Ernüchterung, vielfach auch auf die Stärkung einer Position, die als „konservativ“ bezeichnet wurde. Das galt etwa für den Essayisten Gerd-Klaus Kaltenbrunner, der seit dem Sommer 1974 das einflußreiche Taschenbuchmagazin Herderbücherei Initiative herausgab. Der erste Band trug den Titel „Plädoyer für die Vernunft – Signale einer Tendenzwende“. Noch mehr Aufsehen erregte im November des Jahres eine Tagung in der Münchner Akademie der Schönen Künste unter der Überschrift „Tendenzwende?“ 

Das öffentliche Interesse an dem Kongreß hatte nicht nur damit zu tun, daß Bundespräsident Walter Scheel anwesend war, sondern auch mit der Prominenz der Redner – Ralf Dahrendorf, der intellektuelle Star der FDP, der Sozialdemokrat Richard Löwenthal, der katholische Philosoph Robert Spaemann und der konservative Soziologe Arnold Gehlen – und weil mit Hermann Lübbe und Golo Mann zwei Männer auftraten, die ursprünglich zu den Parteigängern Brandts gehört und sich mittlerweile enttäuscht abgewendet hatten. Dem Verleger Ernst Klett, der die Veranstaltung leitete, war an einer gewissen Breite der Positionen schon deshalb gelegen, weil es im Vorfeld zu massiver Kritik gekommen war: „Man witterte eine Art Verschwörung“, merkte er an, „vermutlich weil unter den (…) Rednern weder ein Neo- noch ein Paläo-Marxist zu finden war. Das ging vom ängstlichen Raunen, die ‘Konservativen’ (was auch immer man darunter verstehen will) fingen an, geistig beweglich zu werden (was sie, falls es sie überhaupt gibt, bekanntlich nicht sein dürfen), bis hin zu den einfacher Strukturierten, die schlicht von ‘Rechtsruck’ sprachen, bevor sie sich wieder ihrem Beruf, dem Erzählen von Geschichten, zuwandten.“

Dem Kongreß folgte vier Jahre später ein weiterer, bei dem ein Mann offen hervortrat, der bis dahin im Hintergrund gestanden, aber die Fäden gezogen hatte: Wilhelm Hahn, der von der CDU gestellte Kultusminister Baden-Württembergs, der seit Jahren alles tat, um den Einfluß der Linken auf das Bildungssystem einzudämmen. Hahns erklärtes Ziel war es, „alle geistigen Kräfte rechts vom Marxismus zu sammeln“. Eine Absicht, in der er sich bestärkt fühlen konnte, weil es seit längerem eine Strömung innerhalb der Union – vor allem der CSU – gab, die nicht nur als „auch“ konservativ gelten, sondern die „neokonservative Welle“ nutzen wollte, die unwiderstehlich die westlichen Staaten zu erfassen schien, in Großbritannien Margaret Thatcher und in den USA Ronald Reagan an die Spitze geführt hatte.

Kohl, der nach dem Scheitern von Strauß bei der Bundestagswahl 1980 wieder an die Spitze der Union getreten war und drei Jahre später einen wenn auch nicht glänzenden, so doch hinreichenden Erfolg für die Union errang, glaubte allerdings nicht, daß man das angelsächsische Modell – Marktwirtschaft plus Antikommunismus plus Patriotismus – ohne weiteres auf die Bundesrepublik übertragen konnte. Deutlich wurde das schon an seiner Entscheidung, Heiner Geißler, den er 1977 zum Generalsekretär der CDU gemacht hatte, freie Hand zu lassen. Geißler galt wegen seiner polemischen Attacken auf die Sympathisantenszene und die Friedensbewegung gemeinhin als „Rechter“. Aber tatsächlich gehörte er aufgrund seiner weltanschaulichen Prägung ins Lager der Linkskatholiken. Was auch seinen Kurs der „Modernisierung“ erklärt, mit dem er die Union auf die „Neue Soziale Frage“ und „weiche“ Themen wie Frauen und Ökologie ausrichtete. 

In kurzer Zeit schuf Geißler in der Bundesgeschäftsstelle der Partei und der Konrad-Adenauer-Stiftung einen Stab, der emsig beschäftigt war, seine Ideen zu verwirklichen. Es handelte sich in erster Linie um junge Männer wie Wulf Schönbohm, Peter Radunski und Warnfried Dettling, die sich als „die anderen 68er“ betrachteten. Tatsächlich hatten sie mit ihren Kontrahenten auf der Linken nicht nur die Altersklasse gemeinsam, sondern auch die Theorie-Fixierung und eine bestimmte Vorstellung von der Richtung, in der sich die Gesellschaft verändern werde. Als Nachwuchsakademiker kamen sie in der Regel aus dem RCDS, waren im Streit mit ihren roten Kommilitonen erprobt und schon von Kohls Vorgänger Rainer Barzel gefördert worden.

„Modernisierung“ der CDU ging nur zu Lasten der Konservativen

Ihre stete Mahnung lautete, daß die Partei „nicht einseitig zugunsten der konservativen Strömung“ (Wulf Schönbohm) ausgerichtet werden dürfe. Vielmehr sollten jene Teile der Bevölkerung gewonnen werden, die sich bisher als wenig ansprechbar erwiesen hatten: jünger, urbaner, weiblicher. Tatsächlich erlebte die CDU einen kontinuierlichen Mitgliederzuwachs, während gleichzeitig ihr Apparat professionalisiert und systematisch ausgebaut wurde. Das Ergebnis charakterisierte Schönbohm dahingehend, daß es sich bei der CDU der siebziger im Vergleich zu der der fünfziger Jahre um „fast zwei verschiedene Parteien“ handelte.

Die „Modernisierung“ bedeutete allerdings auch, daß von den drei Strömungen, die in der Union zusammengeführt worden waren – die konservative, die marktliberale und die christlich-soziale – erstere systematisch und nachhaltig geschwächt wurde. Ein Vorgehen, das Risiken barg, solange diejenigen, die man polemisch als „Stahlhelm-Flügel“ der Union bezeichnete, nicht vollständig entmachtet waren und einen erheblichen Teil der Wählerschaft repräsentierten. Um diese Gruppe, vor allem Nationale, Vertriebene und Kirchlich-Gebundene, bei der Stange zu halten, sprach Kohl auch von „geistig-moralischer Erneuerung“, aber nicht von einer „Wende“. Trotzdem wurde der Begriff regelmäßig mit seiner Politik verknüpft, was vor allem auf seine linken Gegner zurückzuführen war, die ihm unterstellten, eine Art „Roll back“ in die Ära Adenauer zu planen, während seine rechten Kritiker ihn nutzten, um klarzustellen, daß die von Kohl beschworene „Kontinuität“ nicht zur Lösung der Grundprobleme beitrage. 

Wenn der Kanzler der schwarz-gelben Koalition davon unbeeindruckt blieb, dann weil er witterte, daß die Mehrheit der Bevölkerung keine „Wende“ wollte. Sie positionierte sich in einer diffusen „Mitte“ und hatte vieles am gesellschaftlichen Wandel mehr oder weniger akzeptiert. Strauß’ Warnung, daß Geißlers „ideologisch-progressive Öffnung nach links“ allmählich „auf der rechten Seite des politischen Spektrums ein Vakuum entstehen“ lasse, glaubte Kohl deshalb ebenso übergehen zu können wie die Einwände seiner konservativen Berater Basilius Streithofen oder Günter Rohrmoser. Als die CDU unmittelbar nach dem Sieg bei der Bundestagswahl von 1983 auf Landesebene in Hessen, im Saarland und in Nordrhein-Westfalen deutliche Stimmenverluste hinnehmen mußte, sprach Rohrmoser von einem „Debakel“, das er in erster Linie auf die Enttäuschung von Stammwählern der CDU zurückführte und auf das Fehlen jeder „Inspiration“ angesichts der Regierungslinie, die allein auf Machterhalt gerichtet sei.

Tatsächlich kam die Union bei der nächsten Bundestagswahl 1987 nur mehr auf 44,3 Prozent der Stimmen. Die Zusammenarbeit mit der FDP konnte zwar fortgesetzt werden, doch waren die Abnutzungserscheinungen unübersehbar. Viele Beobachter erwarteten, daß die Koalition kaum die zweite Legislaturperiode überstehen werde. Sie sollten sich täuschen. Denn der Zusammenbruch der DDR – jene andere „Wende“ – sollte alles ändern. Kohl gelang es, mit dem Nimbus des „Kanzlers der Einheit“ bis 1998 im Amt zu bleiben.