© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Staatszerstörung als politisches Programm
US-Präsident Ronald Reagan und sein Kabinett: Neoliberale Wölfe in konservativen Schafspelzen
Dirk Glaser

Seit Ronald Reagans Präsidentschaft (1980 bis 1989) ist die Schwächung staatlicher Institutionen „ein bewährtes Mittel US-amerikanischer Politik“. Deren Ziel es sei, so präzisiert die Historikerin Liane Leendertz (Bayerische Akademie der Wissenschaften) diese These, den regulierenden Sozial- und Interventionsstaat, der seit Franklin D. Roosevelts New Deal entstanden war und den Republikaner und Demokraten bis in die 1970er Jahre kontinuierlich ausgeweitet hatten, gründlich zu schleifen (Mittelweg 36, 3/2022). Propagandistisch sei dafür der Boden im Jahrzehnt vor Reagans Einzug ins Weiße Haus gut gedüngt worden durch die „Lobbyarbeit neoliberaler und neokonservativer Think Tanks“ und die staatskritische Rhetorik in zahllosen Medien. So baute sich eine Welle auf, die Reagan als ersten Präsidenten ins Amt spülte, der seit 1932 mit einer „dezidiert antistaatlichen Programmatik“ angetreten war.

Deren Kern bestand in Steuersenkungen, erweiterten Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen und großflächiger „Deregulierung“ der öffentlichen Leistungsverwaltung. Während dieses wenig spektakuläre Minimum relativ geräuschlos realisiert wurde, stockte die Umsetzung weiterreichender Pläne. Weder glückte die Privatisierung von Roosevelts Sozialversicherung noch die avisierte Abschaffung der staatlichen Krankenversicherung. Beim versprochenen „grundlegenden Rückbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaats“ habe  die Reagan-Revolution ihre selbsterklärten Ziele somit „deutlich verfehlt“. 

Den etablierten Interventionsstaat setzte Reagan brachial „auf Diät“

Ein Versagen, das die Strategen der „Reaganomics“ mit einer „langfristig wirksamen Demontage“ auf dem von Zeithistorikern bisher kaum beackerten Feld der Urban Policy aber mehr als nur kompensierten. Urban Policy, 1965 institutionalisiert im Departement of Housing and Urban Development (HUD), stand für die Bemühungen aller US-Nachkriegsregierungen, vor dem Hintergrund zunehmender städtischer Unruhen und Rassenkonflikte die Lebensbedingungen der von Armut, Kriminalität und Ungleichheit am meisten betroffenen afroamerikanischen Bevölkerung mit Hilfe bundesstaatlich dirigierter Transferprogramme (Federal Grants) zu verbessern. Unter den Demokraten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson beschleunigte sich die sozialpolitische Expansion des Bundes, die sich auch unter den Republikanern Richard Nixon und Gerald Ford bis hin zum Demokraten Jimmy Carter fortsetzte, so daß die Ausgaben für Federal Grants exzessiv von sieben (1960) auf 91,4 Milliarden Dollar (1980) stiegen. „So etablierte sich in den USA zwischen 1960 und 1980 ein nationaler Interventionsstaat, der seine Aktivitäten in Form steigender öffentlicher Ausgaben und regulativer Politik auf präzedenzlose Weise ausdehnte und seine politische Macht in der Hauptstadt Washington konzentrierte.“

Diesen Machtkomplex setzte die Reagan-Administration „auf Diät“, die zuerst dem HUD selbst verordnet wurde. Dessen Etat schrumpfte von 34,2 (1981) auf 14,4 Milliarden Dollar (1989), die Zahl der Vollzeitstellen wurde bis 1986 um 38 Prozent abgebaut. Zum Exekutor derart „drakonischer Kürzungen“ berief Reagan den Wall-Street-Anwalt Samuel Pierce, als Stellvertreter des Ministers den Immobilienmakler Donald Hovde, der als altgedienter Lobbyist der privaten Wohnungswirtschaft stets dafür gesorgt hatte, die Preise auf diesem Sektor hoch zu halten. Zum Staatssekretär erkor sich Pierce Emanuel Savas, dem er die „Politikformulierung“ seines Hauses übertrug. Savas galt als Vordenker der libertären Privatisierungsbewegung, sein Werk „Privatizing the Public Sector“ (1982) als deren Bibel. 

Darin agitierte Savas für den umfassenden Rückzug des Staates aus öffentlicher Leistungserbringung, zuvörderst aus weiten Teilen der Sozialpolitik, aus dem Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungswesen. Ausnehmen wollte er davon lediglich Militär, Polizei, Luftreinheit und Infektionsschutz. Alles übrige regelte für ihn der „freie Wettbewerb des Marktes“, auf dem etwa Universitäten, die ihre Kassen mit hohen Studiengebühren füllen, oder Kommunalverwaltungen, die für alle bürokratischen Dienstleistungen saftige Nutzungsgebühren kassieren, mit privaten Anbietern konkurrieren. 

Um diesen „unternehmerischen Wettbewerb“ zugunsten der Privaten zu steuern, reduzierte das HUD die Federal Grants zwischen 1981 und 1987 um ein Drittel, was auf ein „Aushungern“ sozialpolitischer Kernbereiche wie Stadt- und Regionalentwicklung, Arbeitsbeschaffung und Bildung hinauslief. Darum sei das finanziell ausgeblutete und vorsätzlich politisch marginalisierte HUD, als Reagan das Weiße Haus räumte, nur noch „ein Scherbenhaufen“ gewesen. Überdies zeigte sich, daß die libertäre Gang um Pierce und Savas ihre Heilslehre konsequent als Anleitung zu persönlicher „Privatisierung“ von Steuergeldern begriffen hatten: 1989 kam ans Licht, daß sich im HUD einer der größten Korruptions- und Betrugsskandale der US-Nachkriegsgeschichte abgespielt hatte. Allein dies wäre Grund genug für Reagans Nachfolger gewesen, eine Rückkehr zum abgespeckten „Interventionsstaat“ zu erwägen. Die erfolgte aber nie. 

Leendertz schlägt zum Schluß ihrer Studie den Bogen von Reagan zu Donald Trump. Dessen Amtszeit sei die „vorerst letzte Eskalationsstufe“ im Prozeß der Zerschlagung staatlicher Institutionen gewesen, der mit den „Reaganomics“ begonnen habe. So übersichtlich kann Geschichte sein, wenn sie durch die Brille einer linksliberalen bundesdeutschen Historikerin betrachtet wird. Denn Urheber und Macher des von ihr durchaus zutreffend analysierten Zerstörungswerks sind für Leendertz allein die roßtäuscherhaft als „Konservative“ deklarierten neoliberalen Republikaner. 

Kurs von den Demokraten Clinton und Obama bruchlos fortgesetzt

Sie scheint zu übersehen, daß Reagans Kurs von den beiden Demokraten Bill Clinton und Barack Obama bis 2016 fast bruchlos fortgesetzt und unter den Bedingungen der Globalisierung sogar noch erbarmungslos verschärft wurde. Am „Untergang der amerikanischen Arbeiterklasse“, so wie ihn der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton und die Gesundheitsökonomin Anne Case eingehend untersucht haben (JF 36/22), tragen Clinton und Obama mit ihrer Destruktion der Überreste des US-Wohlfahrtsstaats und ihrer viele Hunderttausende Arbeitsplätze vernichtenden Freihandelspolitik mindestens die gleiche Verantwortung wie republikanische Neocons. 

Der Wille, den Staat zum Vorteil der eigenen Klientel entweder „nachhaltig auszuhöhlen und zu marginalisieren“ oder ihn sich exklusiv zur Beute zu machen, prägt also nicht nur, wie es Leendertz suggeriert, rechte Agenden, sondern ist allen Parteien in spätkapitalistisch-marktkonformen Fassadendemokratien eigen. Für den soziologischen Klassiker Max Weber stand darum schon vor über hundert Jahren fest, moderne pluralistische Demokratien blieben nur so lange stabil, wie sie über Eliten mit „Menschentypen“ verfügten, die als „Partei der Unparteiischen“ zu Sachwaltern des Gemeinwohls taugen. Daran mangelt es derzeit nicht nur in den USA, die manche auf einen Bürgerkrieg zurasen sehen. 


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