© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Der Flaneur
Wo sind die Hüllen?
Paul Leonhard

Kastanien“, jubelt die Kleine. „Und so viele.“ Immerhin wirft sie ihr Kinderfahrrad nicht einfach hin, sondern klappt tatsächlich noch den Ständer aus, bevor sie sich eifrig ans Einsammeln macht. Ich blicke zufrieden. Bisher habe ich alles richtig gemacht: Ich habe unsere Kastaniensuche auf einem kleinen Spielplatz begonnen, auf dem lediglich zwei Kastanienbäume stehen, und diese trugen kaum noch Früchte. So war es für die Fünfjährige schon ein Erfolgserlebnis, zwei, drei der braunen Früchte im Gestrüpp unter den Bäumen zu entdecken.

Neben einem anderen Spielplatz steht ein halbes Dutzend mächtiger Kastanien, und auf dem Rasen darunter liegen grüne Schalen und jede Menge brauner Früchte. So viele, daß die Tochter bald wählerisch wird. Nur noch ganz große finden ihre Aufmerksamkeit und ganz kleine. 

Strahlend zeigt sie mir ihre „Babykastanien“, eine kleiner als die andere. Dabei zieht sie den Kopf ein, sobald ein laues Lüftchen durch die Bäume fährt und diese mit dem Abwurf weiterer Kastanien reagieren. Treffer können schmerzhaft sein, auch weil die meisten Kastanien samt ihrer mit Spitzen versehenen Hüllen nach unter fallen. Das kenne ich von früher nicht. Da war das die Ausnahme.

Zu Hause steige ich in den Keller, um nach einem Bastelbuch mit Rittern zu suchen.

Nachdem Töchterchen eingesehen hat, daß das Öffnen der verschlossenen Kastanien schmerzhaft sein kann, werden diese mit den Füßen traktiert, bis die braune Frucht zum Vorschein kommt.

Schließlich ist die Plastetüte fast gefüllt, und sie sieht schweren Herzens ein, daß da nichts mehr zu machen ist. Auch mahne ich, auch andere Kinder wollten sammeln. „Die Kastanien hier reichen für alle“, meint die Tochter altklug und versucht, die Tüte haltend, ihr Fahrrad einhändig zu bändigen, was natürlich mißlingt. Letztlich muß ich die Kastanientüte tragen.

Zu Hause entschwindet sie nach oben, um Mutter und Bruder ihre Beute zu präsenteren. Ich steige in den Keller, um nach einem Bastelbuch aus meiner Kindheit zu suchen. Die dort abgebildeten Kastanienritter entzücken den Sohn, der aber sogleich feststellt, daß seine Schwester nur Früchte mitgebracht hat, nicht aber die wehrhaften Hüllen mit ihren Stacheln. Die aber muß ein richtiger Ritterheld haben, also finde ich mich Minuten später auf der Straße wieder. Diesmal mit meinem Sohn. Erneut auf der Suche nach Kastanien.