© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Paragraph 130 StGB wird erweitert
Der Tod des freien Diskurses
Björn Schumacher

Als 1994 der Volksverhetzungsparagraph 130 StGB um die sogenannte Auschwitzlüge er-weitert wurde, war das die Fixierung eines Triumphs des Philosophen Jürgen Habermas im „Historikerstreit“. Unvergleichlichkeit und Singularität des Holocaust mutierten anstelle eines umfassenden Antitotalitarismus zur Staatsidee. Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) räsonierte über einen „Gründungs-mythos Auschwitz“.

Fünfzehn weitere europäische Länder zogen nach und stellten die Leugnung und/oder Verharmlosung des NS-Judenmords unter Strafe. Die USA und Großbritannien, der urdemokratischen Idee des „Freedom of Speech“ verpflichtet, verweigerten sich dieser fragwürdigen Strafrechtspolitik.

Noch mehr Konfliktpotential liefert die jetzt vom Bundestag − mit den Stimmen von FDP und CDU/CSU-Abgeordneten − in einer Nacht-und-Nebel-Aktion beschlossene Verschärfung des Paragraphen 130 StGB. Künftig soll jede Billigung, Leugnung oder Verharmlosung von Völkermord, Menschlichkeits- und Kriegsverbrechen, die den „öffentlichen Frieden“ stören, bestraft werden. Zum einen dürfte so die Einzigartigkeit des Holocaust wieder in den Debattenfokus rücken. Zum anderen droht der schleichende Tod einer bislang offenen Gesellschaft, wenn Aussagen über Angriffe auf ukrainische Städte oder die Tötung der Herero im früheren Deutsch-Südwestafrika in strafrechtlich bewachte Meinungskorridore gezwängt werden.