© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

„Es geht um Deutschlands Zukunft“
Interview: Nicht Putins Krieg, sondern die Politik hat uns in die Energiekrise geführt – deren Auswirkungen wir zudem völlig unterschätzen, warnt der ehemalige SPD-Umweltsenator und Energieexperte Fritz Vahrenholt
Moritz Schwarz

Herr Professor Vahrenholt, warum weigern Sie sich,  kürzer zu duschen?

Fritz Vahrenholt: Weil das kein ernsthafter Beitrag zur Lösung der Krise ist, in der wir stecken. 

Sondern?

Vahrenholt: Ein Ablenkungsmanöver, das den Leuten suggerieren soll: zum einen, so ließe sich die Krise bekämpfen, zum anderen, die Bürger und nicht die Politik seien an ihr schuld.

Und wie verhält es sich aus Ihrer Sicht tatsächlich? 

Vahrenholt: Unser Problem ist nicht, daß wir zu lange duschen, sondern daß wir ein Gasförderverbot, ein Frackingverbot, ein Verbot von Kohlekraftwerken mit CO2-Abscheidung und ein Kernenergieforschungsverbot haben. Und das angesichts dessen, daß uns fünf bis sechs Millionen Arbeitslose, der Zusammenbruch unserer Wirtschaft und die Deindustrialisierung Deutschlands drohen.

„Deindustrialisierung“, ist das wirklich vorstellbar?

Vahrenholt: Natürlich, erste Anzeichen sind längst zu sehen. Zum Beispiel verkaufen einige Unternehmen ihre Stromverträge, die sie für 2023 bereits abgeschlossen haben, zur Zeit an der Börse. Das heißt, sie haben vor, sich aus Deutschland zurückzuziehen. BASF investiert verstärkt in China, da ihre Energiekosten in Deutschland um 2,2 Milliarden Euro gestiegen sind. Die Folge ist ein Sparprogramm, das 39.000 Mitarbeiter am Standort Ludwigshafen trifft.

Deutschland ist gut tausend Jahre alt, davon war es etwa 850 Jahre ein Agrar- und gut 150 Jahre ein Industrieland. Eine Deindustrialisierung würde also einen Epochenwechsel bedeuten, wie wir ihn in unserer Geschichte nur einmal erlebt haben, und der das Land damals völlig umgekrempelt hat. Daher nochmal die Frage, wie soll man sich dieses Deutschland vorstellen?  

Vahrenholt: Das Problem scheint mir zu sein, daß man sich schon die Deindustrialisierung nicht vorstellen kann, geschweige denn die Zeit danach. Denn die Botschaft, daß wir uns bereits mitten in diesem fundamentalen Prozeß befinden, kommt offenbar bei den meisten Deutschen gar nicht an. Tatsächlich aber investieren wir schon seit Jahren weniger als wir abschreiben – das ist Deindustrialisierung! Denn es bedeutet, daß wir unsere Substanz verbrauchen. Eine der Stärken Deutschlands war es, sicherer Ort für Investitionen zu sein. Doch in ein Land ohne sichere Energieversorgung, zu zudem horrenden Preisen, wagt sich kaum noch ein Investor. Ich fürchte, die Bürger machen sich die Bedeutung der Industrie für unseren Wohlstand nicht klar. Industrie und Gewerbe machen immer noch 24 Prozent unseres BIP aus – das ist weltweit einer der höchsten Werte und hat unseren Wohlstand bestimmt!

Warum gibt es dafür bei so vielen kein Bewußtsein?

Vahrenholt: Ich glaube, weil sich der Prozeß nicht in einem großen Kladderadatsch, sondern schleichend vollzieht. Dennoch sind die Folgen nicht weniger dramatisch, nämlich wachsende Wohlstandsverluste, sinkendes Steueraufkommen und Zurückfallen im internationalen Wettbewerb. Jedoch habe ich den Eindruck, daß einige das gar nicht stört, sie es sich sogar wünschen – wenn ich mir so manches Parteimitglied der Grünen ansehe. Ihnen aber sei gesagt, daß die deutsche Industrie über eine vergleichsweise vorbildliche Klimaeffizienz verfügt. Die Herstellung eines Produktes verursacht bei uns also weniger CO2 als in den meisten anderen Ländern. Machen wir unsere Industrie kaputt, werden diese Produkte nicht verschwinden, sondern von anderen hergestellt – zum Beispiel von China, unter Ausstoß des Fünffachen an CO2.   

Sie haben in der „Bild“-Zeitung davon gesprochen, daß das „Ampel-Gehampel“ endlich aufhören müsse.

Vahrenholt: Damit meine ich dieses Hin und Her aus irrelevanten Maßnahmen, wie kürzer duschen, Waschlappen benutzen, Leuchtreklame abschalten, und falschen Behauptungen wie etwa, wir hätten gar kein Stromproblem oder der Weiterbetrieb der letzten Kernkraftwerke bringe nichts – statt sich endlich der Krise zu stellen und die Politik zu ändern!  

Aber ist die Laufzeitverlängerung für die Atomkraft da nicht ein erster Schritt? 

Vahrenholt: Nein, denn die gilt nur bis zum 15. April. Doch werden sich die Dinge bis dahin kaum geändert haben. Und der nächste Winter kommt. 

Vielleicht gelingt in der Ukraine bis dahin ein Waffenstillstand.

Vahrenholt: Der Konflikt mit Rußland ist nicht die Ursache unserer Krise, sondern hat unsere Schwäche offengelegt: Billiges Gas aus Rußland war das Rückgrat der schwankenden Wind- und Solarproduktion. Die eigentlichen Ursachen sind, daß wir europaweit Kohlekraftwerke abgestellt haben – Stichwort von der Leyens „Green Deal“–, daß wir aus der Kernkraft ausgestiegen sind, sowie daß wir das CO2 so verteuert haben, daß sich der Strompreis schon bis 2021 verdreifacht hatte.

Was steht uns also nach Ihrer Ansicht konkret bevor? 

Vahrenholt: Wir können es uns einfach nicht leisten, jedes Jahr einen 200-Milliarden-Euro-„Doppelwumms“ aufzubringen, um die Energie- und Strompreise zu dämpfen. Und es geht dabei nicht nur um die Bürger und kleinen Betriebe, die das nicht mehr bezahlen können, sondern auch um die Unternehmen, die auf dem Weltmarkt mit Anbietern in China oder den USA konkurrieren müssen, die nur zwei oder drei Cent pro Kilowattstunde für Strom bezahlen müssen. 

Droht uns ein Blackout? 

Vahrenholt: Auch der ist nicht auszuschließen. Ich halte ihn aber für eher unwahrscheinlich. 

Vor kurzem sprach der Wirtschaftsingenieur und Blackout-Vorsorgeberater Robert Jungnischke in dieser Zeitung von einer 99,9prozentigen Wahrscheinlichkeit. 

Vahrenholt: Wird die Gefahr zu groß, werden die Energieversorger mit Stromsperren für Stadtteile und Fabriken reihum das Netz stabilisieren und so einen Blackout vermutlich verhindern. Das aber ist das Modell Kapstadt und das Niveau eines Entwicklungs- oder Schwellenlandes, nicht das einer Industrienation. Nochmals: Wer will in einem solchen Land noch investieren? 

Was muß jetzt also unternommen werden? 

Vahrenholt: Die letzten drei Kernkraftwerke müssen unbefristet weiterlaufen, die drei zuvor abgeschalteten, wenn technisch möglich, wieder in Betrieb gehen. Immerhin versorgen die drei KKW etwa 12 Millionen Haushalte! Das ist nicht nur wichtig, um die Versorgung sicherzustellen, sondern auch, um die Preise zu senken, denn Kernkraft und Kohle sind billiger als Gas – auf das sich aber, zusätzlich zu den unzuverlässigen erneuerbaren Energiequellen, die deutsche Energiepolitik vor allem stützt. Und deshalb müssen zudem auch die Kohlekraftwerke wieder ans Netz, die man mit CO2-Abscheidetechnologie CO2-neutral machen kann. Nur ist grüne Kohlekraft aus ideologischen Gründen nicht gewollt – vermutlich weil dann die Argumente gegen die Kohle hinfällig wären. Diese Technologie nennt sich übrigens CCS – Carbon capture and storage: CO2 einfangen und in tiefen Schichten ablagern. Das abgeschiedene Kohlendioxid wird in die Erde verpreßt, wozu uns etwa Norwegen leergeförderte Gasfelder anbietet. Und schließlich müssen wir als dritten Pfeiler einer Energiepolitik, die uns aus der Krise führt, unser eigenes Erdgas nutzen, von dem wir bekanntlich einen riesigen Schatz in der norddeutschen Tiefebene haben. Schon in einem Jahr könnte dessen Förderung per Fracking beginnen, würde man das jetzt anpacken. 

Stattdessen importieren wir aus den USA teures LNG, also Flüssigerdgas.

Vahrenholt: Und das, obwohl Präsident Biden die Exploration von Fracking-Gas auf staatlichem Grund und Boden verboten hat. Folge: die Menge an US-Fracking-Gas wird perspektivisch geringer, weil bestehende Felder irgendwann erschöpft sind. Das bedeutet, daß das sowieso schon teure LNG künftig noch teurer wird, und daß – da die Amerikaner natürlich immer erst den eigenen Bedarf decken – irgendwann für uns nicht mehr viel übrigbleibt. 

Wie wahrscheinlich ist es, daß es zu dem von Ihnen geforderten Wechsel der deutschen Energiepolitik kommt? 

Vahrenholt: Tja, am Ende wird die Alternative lauten, entweder auf diese Weise die Krise zu bekämpfen – oder immer neues Geld zu drucken, um die Preissteigerungen auszugleichen. Was das aber zur Konsequenz hat, wissen Sie. 

Sie meinen, der Euro würde endgültig zu einer Art italienischer Lira, einer Billigwährung mit Inflation? 

Vahrenholt: Das wäre die Alternative. 

Inflation, Abhängigkeit von den USA, LNG-Knappheit – die nächste Krise ist also schon programmiert?

Vahrenholt: Die Bundesregierung hat offenbar nicht begriffen, daß sie deshalb mit dem Versuch, LNG von Katar, Israel oder Kanada zu bekommen gescheitert ist, weil diese Länder keine Zwei-, sondern Zwanzig-Jahres-Verträge wollen. Denn für die Lieferung müssen sie die nötige Infrastruktur schaffen, die sich aber nur lohnt, wenn die Abnahme für längere Zeit sicher ist. Doch das wiederum wollte Herr Habeck nicht, wegen des Klimaschutzes. Er hat Israelis und Kataris wörtlich gesagt, in sieben Jahren brauchen wir euer Gas nicht mehr! Und nun stehen wir da und machen uns abhängig von amerikanischem Flüssigerdgas – mit absehbaren Folgen, die aber einfach ignoriert werden. Ja, da ist die nächste Krise natürlich programmiert! Zumal China, wegen seiner schwächelnden Wirtschaft, in diesem Jahr 14 Prozent weniger Gas verbraucht hat, das damit dem Markt zur Verfügung stand. Springt die chinesische Wirtschaft jedoch wieder an, fliegt uns der LNG-Preis auch deshalb erneut um die Ohren. Darum gibt es nur eines: Deutschland muß mit der dümmsten Energiepolitik der Welt endlich aufhören!

Was meinen Sie genau, die Energiewende an sich oder nur die inkompetente Art, mit der sie erst unter Merkel, dann unter der Ampel umgesetzt worden ist?

Vahrenholt: Natürlich gehören auch Solar und Wind zum Energiemix. Erneuerbare Energien sind aber bekanntlich nicht grundlastfähig, weshalb man für jedes Windrad und jedes Solarpanel Kapazitäten eines konventionellen Kraftwerks bereithalten muß, wenn Wind und Sonne uns im Stich lassen. Denn wettbewerbsfähige Speichertechnologien, etwa durch Wasserstoff werden wir in diesem Jahrzehnt nicht mehr bekommen.

Aber sind Sie nicht ein Förderer regenerativer Energien?

Vahrenholt: Ja, bei Shell habe ich Solar vorangebracht und bei Repower und RWE die Windenergie und ich bin stolz darauf, daß eine der ersten Windkraftanlagen in der Nordsee nach mir „Fritz“ genannt wurde. Doch zu glauben, wir könnten allein mit regenerativer Energie unseren Bedarf als Industrienation sichern, ist ein großer Irrtum! 

Wir beziehen aber doch schon vierzig Prozent aus den erneuerbaren Energien. 

Vahrenholt: Vierzig Prozent unseres Strom-, aber nicht unseres gesamten Energiebedarfs! Da decken Wind und Sonne gerade einmal gut fünf Prozent der gesamten Primärenergie – also einschließlich Verkehr und Wärme – ab. Weltweit sind es übrigens sogar nur gut zwei Prozent. Wer angesichts dessen glaubt, daß wir – wie politisch geplant – in acht Jahren weitgehend auf Erneuerbare umsteigen können, der wird sehr schlimm scheitern. 

Also müssen wir zurück zur klassischen deutschen Energiepolitik vor der Energiewende, dem Energiemix – nur mit einem größeren Anteil an Erneuerbaren?

Vahrenholt: Ja, regenerative Energien haben ihren Platz. Sie dürfen nur nicht zu einer Art Religion gemacht werden. 

Wie groß könnte bei einer verantwortungsbewußten Energiepolitik ihr Anteil am Mix maximal werden?

Vahrenholt: Hans-Werner Sinn spricht von fünfzig Prozent, aber nur für den Strom. Ich kann mir allerdings vorstellen, daß dies auch für den Gesamt­energiebedarf erreicht werden kann – aber nur wenn wir uns dafür dreißig Jahre Zeit nehmen, um diesen Zustand, einschließlich importierter erneuerbarer Energien, zu erreichen. Und wir müssen natürlich über die anderen fünfzig Prozent reden.

Bleibt uns die ganz große Krise in diesem Winter vielleicht erspart, wenn der wieder einmal mild ausfällt?

Vahrenholt: Das ist das, worauf die Bundesregierung hofft, sowie – ironischerweise – auf die Wiederinbetriebnahme der ausgefallenen französischen Kernkraftwerke. Und das kann auch durchaus so kommen – obwohl zu warme Oktober erfahrungsgemäß sehr häufig zu kalten Wintern führen. Doch ändert es nichts daran, daß eine Politik, die ihr Wohl und Wehe auf zwei externe Zufallsfaktoren setzt, vollkommen unverantwortlich ist. Zumal ich voraussage, sollte es halbwegs gutgehen, wird man nicht die notwendigen Lehren ziehen, sondern sich darauf ausruhen. Denn dann kommt auch der Sommer, und die Lage entspannt sich etwas. Mit der Folge, daß wir im Herbst 2023 vor einer noch schlimmeren Situation stehen, da unsere Gasspeicher dann noch geringer gefüllt sein werden als jetzt. Denn in diesem Jahr haben wir ja immerhin bis August Gas aus Rußland bezogen. Deshalb wird diese Politik früher oder später in einem Desaster enden. Woraus folgt, daß es keine Alternative zu einem Ausstieg aus der Energiewende und dem „Weiter so“ gibt. Auch dann nicht, wenn wir diesen Winter mit einem blauen Auge davonkommen sollten.

Und wenn der Winter hart statt mild wird?

Vahrenholt: Ich vermute, daß wir auch dann mit Hängen und Würgen irgendwie durchkommen, dann wahrscheinlich mit den schon erwähnten Stromsperren. Und auch dank des 200-Milliarden-Euro-„Doppelwumms“. Die Bürger werden aber die Zeche indirekt dennoch zahlen müssen, weil gedrucktes Geld die Inflation nur weiter anheizt. Aber vor allem, es geht überhaupt nicht um diesen Herbst und Winter: Worum es geht, ist die Zukunft Deutschlands als Industriestandort! Das müssen die Bürger der Politik demonstrativ klarmachen. Ich habe etwa einen „Rettet unsere Industrie“-Aufkleber der gleichnamigen Initiative am Auto – „Atomkraft? Nein danke“ ist dagegen so etwas von gestern! Denn Zukunft gibt es nur, wenn wir unsere Industrie und ihre Arbeitsplätze retten.






Prof. Dr. Fritz Vahrenholt, der Chemiker und SPD-Politiker, 1949 in Gelsenkirchen geboren, war bis 1997 Hamburger Umweltsenator, dann Vorstand für erneuerbare Energie der Deutschen Shell und Chef der RWE-Tochter für Wind-, Wasser- und Bioenergie. Zuletzt publizierte der Bestsellerautor „Unerwünschte Wahrheit. Was Sie über den Klimawandel wissen sollten“ und „Unanfechtbar? Der Beschluß des Verfassungsgerichts zum Klimaschutz im Faktencheck“.