© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

„In einen riesigen Abgrund schauen“
Michael Kretschmer: Mit seinen Positionen zu Rußland ist der sächsische Ministerpräsident im Kreis seiner Amtskollegen ein Exot. Doch vielen Bürgern spricht er damit aus der Seele
Paul Leonhard

Die Parteijugend plant den Aufstand. Nachdem sich die Junge Union Sachsen/Niederschlesien (JU) nachdrücklich von der Position des CDU-Landesvorsitzenden und sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer zum Thema Rußland distanziert hat, will der christdemokratische Nachwuchs nun, daß ihm die Delegierten des am kommenden Wochenende stattfindenden Landesparteitages nicht folgen. Kretschmers Forderung, den Ukraine-Krieg „einzufrieren“, halte man für „unterkomplex“ und lehne sie daher ab, sagte JU-Landeschef Marcus Mündlein der Bild. Das Boulevardblatt hatte versucht, den Sachsen-Premier ob seiner Haltung zu den Rußland-Sanktionen als isoliert darzustellen und Zweifel zu schüren, der gebürtige Schlesier würde mit seiner Forderung nach Verhandlungen tatsächlich für eine große Zahl von Menschen in den neuen Bundesländern sprechen.

 „Ich finde es wichtig, daß Michael Kretschmer oft die ostdeutsche Sicht- und Gefühlswelt mit in die bundesdeutsche Debatte einbringt“, teilte der Thüringer CDU-Politiker Mike Mohring der Bild mit. Die ostdeutschen Bürger hätten zwar keine andere Sicht auf den Krieg als die westdeutschen, „was in Ostdeutschland diskutiert werde, sei allerdings eine mögliche Wiederaufnahme der Beziehungen zu Rußland nach dem Krieg“.

„Rußland ist Realität, wir müssen mit denen klarkommen“

Um zu wissen, daß dauerhafte Sanktionen oder Handelsbeschränkungen gegen Staaten wie Rußland und auch China nicht durchsetzbar sind, ohne daß erneut ein Eiserner Vorhang fällt, dafür müssen sich Ex-DDR-Bürger nur ihren Schulatlas mit den riesigen roten Flecken in Erinnerung rufen. Auch ohne die souverän gewordenen Sowjetrepubliken bleibt Putins Reich ein rohstoffreicher Riese, der alles andere als auf tönernen Füßen steht und dessen Bevölkerung leidensfähiger als alle westeuropäischen Völker ist.

 Sachsen-Premier Kretschmer ist der einzige Politiker von Gewicht, der dem Kind im Märchen gleicht, das ausruft, was doch alle sehen, aber keiner zu sagen wagt: Der Kaiser ist nackt, sprich: Die Sanktionen schaden der eigenen Wirtschaft mehr als der russischen. Deutschland sollte eine Vermittlerrolle spielen. Und die Energiewende ist gescheitert, die deutschen Atomkraftwerke, die sich reaktivieren lassen, sollten am Netz bleiben. „Durch den Krieg haben sich die Dinge verschoben, wir schauen in einen riesigen Abgrund“, sagte Kretschmer auf einem Bürgerforum im sächsischen Riesa. Putin führe einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und sei ein Aggressor, aber „Rußland ist Realität, wir müssen mit denen klarkommen“.

In Sachsen bekommt Kretschmer für seine Sicht auf die aktuelle Situation Beifall – aber deutschlandweit die Häme zahlreicher Medien zu spüren. Den 47jährigen scheint das nicht zu stören. Derzeit sitzt der Sachse die gegen ihn gerichteten Kampagnen aus.

Deutschland müsse endlich anerkennen, daß es „unterschiedliche Sichtweisen gibt, auch was den Blick auf den Krieg in der Ukraine betrifft und die Frage, wie man damit umgehen soll“, bekräftigte Kretschmer, für den der Osten ohnehin ein Seismograph für die Stimmung in der Bevölkerung ist. Sowenig Sympathien die einstigen DDR-Bürger für Putins Rußland aufbringen, um so sensibler sind sie für die Gefahren, die von dem Riesenreich und seiner unberechenbaren Führung ausgehen: „Wir haben es mit einer Supermacht zu tun, es ist ein Pulverfaß, es ist nicht ungefährlich“, hatte Kretschmer im ZDF gewarnt. 

Auch wenn er sein Bild vom „Einfrieren des Kriegs“ nicht wiederholte, mahnte er erneut Verhandlungen über ein Ende des russischen Angriffskriegs an, auch weil dieser, obwohl er nur in einem kleinen Teil der Welt stattfinde, die ganze Welt ins Chaos stürze: „Aber meine Meinung ist in der Tat: So schnell wie möglich eine diplomatische Lösung, das Sterben muß aufhören.“ Mit seinen Äußerungen schade Kretschmer dem Ansehen des CDU-Landesverbandes nachhaltig, findet die Junge Union und sucht so den Schulterschluß zu Jusos und Grüner Jugend. Aber auch deren Mutterparteien – in die Dresdner Regierungskoalition eingebunden – wissen, wie ein Großteil der Sachsen tickt. Die Basis der Linken fühlt sich mehrheitlich als „Friedenspartei“, die nach wie vor die Ost-Erweiterung der Nato als gezielte Provokation Rußlands und damit als eine Ursache für Putins Angriffskrieg sieht. Und die AfD fühlt sich ihrer Argumente beraubt. 

Sein parteiinterner Kritiker Marco Wanderwitz, früherer Ostbeauftragter der Bundesregierung, erklärte, wer als CDU-Politiker „vom AfD-Bundesvorsitzenden Tino Chrupalla und der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht namentlich gelobt wird“, habe etwas verkehrt gemacht. Wanderwitz kündigte jüngst seinen Rückzug als Kreisvorsitzender der CDU in Zwickau an; unter diesem Chef der Landespartei wolle er nicht mehr dienen. Dadurch allerdings braucht es Kretschmer um seine politische Zukunft und die der Sachsen-Union nicht bange zu sein.

Auf dem Parteitag dürften die Kritiker erfahren, daß die Ansicht von Wanderwitz, „der Ministerpräsident agiere wie ein Geisterfahrer, der glaube, nicht er, sondern alle anderen würden in die falsche Richtung fahren“, vielleicht auf Bundesebene zutrifft – wo Friedrich Merz beteuert, die Position seines Vizes Kretschmer sei nicht die der CDU Deutschlands –, aber nicht auf den Freistaat. Dort sind Mehrheiten der Meinung, daß „wir uns Ideologie in der jetzigen Lage nicht leisten können“.